Himmelsdiebe
breitete irgendwelche Papiere auf dem Tisch aus. Trotz der frühen Stunde trug der Notar seinen Nadelstreifenanzug und Fliege. Wahrscheinlich ging er damit sogar schlafen.
»Haben Sie das Sauf-Conduit ?«, fragte Geraldine, die schon reisefertig war.
»Selbstverständlich«, erwiderte Maître Simon und wedelte mit einer Urkunde in der Luft. »Mademoiselle Paddington kann ab sofort fahren, wohin sie will.« Er reichte Laura das Sauf-Conduit und legte ihr ein zweites Dokument vor. »Wenn Sie im Gegenzug vielleicht diese Kleinigkeit hier unterschreiben würden?«
Laura setzte sich an den Tisch. Die Buchstaben auf dem Papier vollführten vor ihren Augen einen so aberwitzigen Tanz, dass sie keine Zeile entziffern konnte.
»Was ist das?«
»Nur eine Vollmacht. Damit ermächtigen Sie Madame Lulu Garnier, Inhaberin des hiesigen Hôtel des Touristes , Ihr Anwesen mitsamt allen darin befindlichen Gütern in Ihrem Namen und Auftrag zu veräußern sowie alle Handlungen zu vollziehen, die mit dem Verkauf verbunden sind.«
Laura zögerte einen Augenblick. Sollte sie das wirklich unterschreiben? Mit einem einzigen Namenszug würde sie alles aufgeben, was Harry und sie hier geschaffen hatten: das Haus, den Weinberg, die Wandmalereien, die Möbel, die Skulpturen im Garte n – sogar die Bilder, die sie nicht mitnehmen konnte und hier zurücklassen musste.
»Wir haben den Gesamtverkaufspreis auf dreitausend Francs festgelegt«, erklärte der Notar.
»So viel? Ich habe doch nur zweitausendzweihundert bezahlt.«
»Ich habe dir ja gleich gesagt, das war ein Schnäppchen.« Lulu lächelte sie mit ihren braunen Zahnstumpen an. »Jetzt machst du ein hübsches Geschäft und kannst außerdem alle deine Schulden bezahlen. Du weißt ja, Maître Simon hat eine Menge Geld für dich ausgegeben. Und von deinem Konto in meinem Anschreibebuch will ich gar nicht erst reden.«
Laura nahm den Füllfederhalter, den Maître Simon ihr reichte, und unterschrieb.
»Sind wir dann so weit?«, fragte Geraldine und streifte ihre Autohandschuhe über.
»Sofort. Ich will nur noch eine Nachricht für Harry dalassen.«
Laura überlegte. Tausend Dinge fielen ihr ein, die sie ihm mitteilen wollte. Es waren so viele, dass sie schließlich nur zwei Sätze zu Papier brachte.
Fahre mit Geraldine nach Spanien. Erwarte Dich in Lissabon.
Draußen im Weinberg kläffte der Köter. Laura ging in die Schlafkammer, um ihren Koffer zu holen. Als sie am Atelier vorbeikam, sah sie durch den Türspalt die Staffelei. Wie ein Zwang überkam sie der Wunsch, noch einmal die Bilder anzuschauen, die Harry und sie zusammen gemalt hatten, noch einmal die Himmelsbeute zu betrachten, bevor sie von hier verschwand, und sie musste sich Gewalt antun, um den Drang zu unterdrücken. Nein, sie durfte nicht zurück in das Atelier. Wenn sie Harry noch einmal sah, würde sie für immer in dem Raum gefangen bleiben. Also gab sie sich einen Ruck und lief die Treppe hinunter.
»Hat jemand das Schaf gesehen?«, fragte sie, nachdem sie den Koffer im Auto verstaut hatte.
»Das Schaf?«, erwiderte Geraldine. »Sag ja nicht, dass du dich von dem Vieh verabschieden willst!«
»Natürlich will ich das. Wenn ich einfach verschwinde, ohne etwas zu sagen, wird Helene mich vermissen und geht vor Trauer ein.«
»Blödsinn.« Geraldine öffnete die Beifahrertür und drängte sie zum Auto. »Dafür ist jetzt keine Zeit.«
»Mach dir keine Sorgen«, sagte Lulu. »Ich werde mich um alles kümmern. Wenn’s sein muss, auch um dein Schaf. Komm her, Schätzchen, lass dich noch einmal küssen.« In den Augen der Wirtin schimmerten Tränen, als sie Laura umarmte. »Ich werde dich ganz schön vermissen. Das kannst du mir glauben.«
»Ich dich auch, Lulu.«
»Und was ist mit mir?« Der Notar verabschiedete sich mit einem Handkuss. »Kopf hoch, Mademoiselle Paddington. Tua res agitur .«
»Ich weiß, Maître Simon.«
Laura warf einen letzten Blick auf ihr Haus, dann nahm sie auf dem Beifahrersitz Platz. Der Anblick von Dadas Torso war mehr, als sie verkraften konnte.
»Na endlich«, sagte Geraldine und ließ den Motor an.
Im ersten Gang schaukelten sie den Hügel hinab. Laura drehte sich noch einmal um, um Lulu und dem Notar zu winken. Doch die beiden waren bereits verschwunden.
In der Ferne knatterten irgendwo Schüsse wie von einer Maschinenpistole.
»Höchste Zeit, hier abzuhauen«, sagte Geraldine. »Weißt du eigentlich, wie weit es bis zur Grenze ist?«
»Keine Ahnung. Aber ich schätze, dass
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