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Himmelsfern

Himmelsfern

Titel: Himmelsfern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Benkau
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würdest mich töten. Es wäre mir wie eine Erlösung vorgekommen.« Er seufzte tief und lautlos, sodass ich seinen Atem auf meiner Haut spürte. Warm und lebendig. »Dann fand ich eine Botschaft in der Nähe der Löwenstatue. Einen Vogel, eine harmlose Taube, zugerichtet wie der Star, den du gesehen hast. Man hatte ihr eine Kette um den Hals geschnürt. Die Kette, die Corbin seiner Freundin geschenkt hatte. Sie hat sie bei ihrer Beerdigung getragen.«
    Ich presste die Lippen zusammen, damit mir kein entsetzter Laut entfuhr. »Damit machen sie euch mürbe? Indem sie euch tote Vögel und Symbole schicken?«
    Â»Ja. Und bringen uns so dazu, Fehler zu begehen. Es war kein Zufall, dass wir kurz darauf herausfanden, wo Olivier wohnte. Es war erneut eine Falle. In der Wohnung lagen Sprengkörper und das Gas war voll aufgedreht. Wären wir in unserer Rage dort hineingepoltert, hätte es das ganze Haus zerfetzt. Uns in jedem Fall. Wir rannten aber nicht kopflos hinein. Kannst du dir denken, warum?« Ich hatte eine vage Ahnung, aber ich schüttelte den Kopf, damit er es aussprach. »Weil du uns in den Weg gestolpert bist, Noa. In der Nacht, als wir dich gefangen hielten, beschlossen wir, den Kampf gegen die Huntsmen aufzugeben. Sie sind uns überlegen. Wir haben uns geirrt. Das ist kein Krieg, es ist bloß eine Jagd. Und die Beute sind wir. Nicht sie.«
    Mein Mund war trocken, meine Zunge fühlte sich an, als würde Sandpapier darauf kleben. Mich auf meine Füße zu stellen kam einem Kraftakt gleich, aber es gelang. Marlon konnte jetzt nicht von mir verlangen, dass ich mit ihm sprach. Tat er, nebenbei bemerkt, auch nicht.
    Â»Willst du ein Stück gehen?«, fragte er nach ewigem Schweigen. Ich nickte. »Darf ich neben dir gehen?« Wieder nickte ich. Er sah mich dankbar an, als wäre das mehr, als er erwartet hatte. Also gingen wir. Eine Straße entlang. Um die Ecke. Eine weitere Straße entlang.
    Wir gingen durch die Stadt, bis die morgendliche Frische verflogen war und die Sonne uns grillte. Wir wateten durch den Gestank von heißem Asphalt, atmeten abgasgeschwängerte Luft und erlaubten uns nicht mehr als kurze Blicke, die dem anderen entgehen sollten, was natürlich nicht der Fall war. Mein T-Shirt klebte mir am Rücken. Auf Marlons Schläfen glänzten winzige Schweißperlen. Ich wischte mir mehrmals die nassen Hände an der Hose ab, um ihn wie zufällig zu berühren, ließ es dann aber bleiben.
    Irgendwann, als mir die Zunge längst dick und klebrig vor Durst im Mund lag, überwand ich mich und sprach das erste Wort.
    Â»Marlon?«
    Â»Hmm?«
    Â»Was nun?«
    Er zog die linke Schulter hoch und ließ sie wieder fallen. »Da vorne ist eine Tankstelle. Eis und Cola?«
    Ich überlegte kurz. »Und ein Rosinenbrötchen. Oder zwei.«
    Es wäre gelogen, zu behaupten, dass nach einem ernährungsphysiologisch äußerst wertlosen Frühstück aus Eis, Cola und labberigem Süßgebäck alles wieder in Ordnung war. Sich vollzustopfen, musste ich feststellen, half beinahe immer, nur diesmal leider kein Stück. Während Marlon seine Colaflasche benutzte, um sich den Nacken zu kühlen, dehnte ich meine Auffassung von in Ordnung in alle Richtungen, so wie Papa seinen Pizzateig dehnte und zog, der ihm erst dann gut genug war, wenn man hindurchgucken konnte.
    Es änderte nichts. Das Attentat war nicht in Ordnung. Aber es war geschehen. Es war vorbei.
    Marlon war hier.
    Wofür ich dem Himmel dankte und ein klitzekleines bisschen auch dem Schicksal, weil er daran glaubte und ich nicht mehr ausschließen konnte, dass es wirklich existierte.
    Nein, nichts war in Ordnung. Doch ich begriff, dass es Dinge gab, die mir wichtiger waren. Er musste nicht in Ordnung sein; mir reichte, wenn er Marlon war.
    War ich besessen? Sah ganz so aus. Aber warum auch nicht? Ein sehr garstiger Teil meines Unterbewusstseins, den ich für gewöhnlich mit Ignoranz strafte, sagte mir, dass es egal war, wer er war oder was er getan hatte. Er würde ohnehin bald weg sein. Ich stimmte diesem zynischen Teil in mir zu, ergänzte aber, dass er vielleicht zurückkäme und dann neu anfangen könnte. War das nicht alles, was er wollte? Ein unbeschwerter Mensch zu sein?
    Das Frühstück machte nichts besser, aber es half, uns etwas vorzumachen. Wir hatten keine Ahnung, wohin wir gehen und was wir tun sollten.

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