Himmelsfern
Brauchten wir auch nicht. Wir schlenderten weiter, aber nun nicht mehr wortlos und von tonnenschweren Grübeleien begleitet. Wir sprachen über die Musik, die wir mochten, die aktuellen Kinofilme, die wir beide nicht gesehen hatten, sowie über die Bücher, die er bevorzugte und deren Namen ich nur kannte, weil Rosalia sie mir empfohlen hatte. Ich verfolgte aufmerksam, wie Marlon sich die leicht verschwitzten Haare aus dem Gesicht strich. Er blinzelte träge, wenn ich mir über die Lippen leckte, weil Staub auf ihnen haftete. Wir grinsten uns verschämt an und lächelten ehrlich, wenn sich unsere Blicke aller Vorsicht zum Trotz aus dem Augenwinkel für einen Sekundenbruchteil trafen. Von auÃen hätte uns jeder für stinknormale, unbeholfen flirtende Jugendliche gehalten. Und nachdem ausreichend Zeit vergangen war und die Nachmittagssonne uns längst in die Schatten getrieben hatte, begann auch ich, es wieder zu glauben.
Wir waren in der Nähe des Kanals angekommen. Ich führte Marlon an der Ruine einer Wassermühle vorbei. Es gab hier eine Stelle, wo man ganz nah an den Fluss gelangen konnte. Nur Stacheldraht und Unkraut standen uns im Weg. Ich zeigte Marlon die Richtung, indem ich den oberen Draht hochhielt, damit er bequemer darunter hindurchklettern konnte. Dafür trampelte er in seiner langen Jeans eine Mauer aus Brennnesseln nieder, die ihm bis zur Hüfte reichte, und schuf mir so eine Schneise. Am Kanal angekommen, setzten wir uns im Schatten eines Baumes ans Ufer, das an dieser Stelle so niedrig angelegt war, dass ich meine FüÃe ins Wasser baumeln lassen konnte. Marlon tat es mir nach. Wir achteten nicht darauf, dass Müll und bräunlicher Schaum auf dem Wasser trieben und es trotz der reiÃenden Strömung trüb wirkte. Der uns umwabernde Geruch erinnerte an verbrannte Butter und an Wäsche, die zu lange in der Waschmaschine gelegen hatte, aber man roch auch das Gras, die Bäume und die Sonne. Zumindest wenn man darauf achtete.
Das war meine Stadt. Sogar einer der Orte, die ich besonders mochte. Warum nicht Gefallen an Dingen finden, die man nicht ändern kann? Ich beugte mich übers Wasser, in dem ich nur Grau sah, nicht einmal den Hauch meines Spiegelbildes. Oder ein wenig Himmelblau. Ich lehnte mich weiter vor.
Marlon berührte meine Schulter, mein linkes Schlüsselbein, einen Teil meines Dekolletés. »Sei vorsichtig.«
Ich gab mich unbeeindruckter, als ich mich fühlte. »Hast du Angst, dass ich reinfalle?«
»Ja. Du kommst mit Feuer zurecht, aber ich bin mir nicht sicher, ob du auch das Wasser im Griff hast.«
»Jugendschwimmabzeichen in Gold«, erwiderte ich nicht ohne Stolz. »AuÃerdem bist du ja hier und kannst mich retten.«
»Aber du würdest aus der Brühe mit veränderter DNA wieder auftauchen.« Er zog die Zehen aus dem Wasser und beäugte sie kritisch. »Man sollte versuchen, Fotos darin zu entwickeln oder Biomüll aufzulösen.«
Kichernd lieà ich mich auf den Rücken sinken und sah in den Himmel. Die Sonne wanderte ein Stück und brach durch die Zweige der Bäume. Sie blendete mich so stark, dass ich mir den Unterarm auf die Augen legen musste. »Spotte ruhig. Ich bin trotzdem gerne hier.«
»Ich doch auch.« Marlons Flüstern streifte plötzlich meine Lippen. Ich hatte nicht gemerkt, dass er sich über mich beugte, bis ich seinen Atem spürte. Ihn einsog.
»Gehe ich zu weit?«
»Nein.« Ich schob die Hand in seinen Nacken, seine Finger fuhren durch mein Haar. Meine Kopfhaut vibrierte. Nicht weit genug.
Sein Kuss begann noch vorsichtiger als unser erster. Jede Bewegung seiner Lippen glich einer lautlosen Frage, die ich beantwortete.
Nun geschah es also. Ich küsste einen Terroristen. Der Gedanke war durchaus da, und nicht allzu leise. Doch lauter war ein anderer: Der Terrorist küsst eben verdammt noch mal sehr gut.
Er streifte meine Brust, eine feine Berührung durch mein verrutschtes T-Shirt. Das gefiel mir. Unter seinem T-Shirt zeichnete ich seine Wirbelsäule nach. Er streichelte meine Hüfte, fand den schmalen Streifen nackter Haut zwischen Hosenbund und Shirt und lieà seine Hand auf meiner Taille liegen. Mir war, als verbrannte die darunterliegende Haut, als verbrannte jeder Zentimeter Haut, den er berührte. Es mussten Verbrennungen sein, denn ich konnte an nichts anderes mehr denken.
Wir gingen erst, als es kühl
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