Himmelsfern
quetschte dann einen unvollständigen Satz hervor, der klang, als hätte er ihn die ganze Nacht über auswendig gelernt. »Von vorn, ganz von vorn, ohne Lügen?« Es war ein Angebot und ich nickte.
Wir schlenderten zum Spielplatz. Doch statt uns, wie beim letzten Mal, auf die Mauer zu setzen, kletterten wir über sie hinweg, lieÃen uns auf der anderen Seite auf den Boden nieder und lehnten uns an die Steine. Von der StraÃe aus konnte man uns nicht sehen. Für diese halbherzige Sicherheit nahm ich es gerne hin, dass Spinnen und Käfer aus dem Gemäuer in meine Haare krabbeln konnten.
Ein Neuanfang ohne Lügen. Ich beschloss zu beginnen.
»Ich habe Angst, mich zu verbrennen.« Ich machte eine Pause, um ihm die Möglichkeit zu geben, sich an unser Gespräch am Ufer des Kanals zu erinnern. Marlon begriff sofort.
»Höllische Angst, jedes Mal aufs Neue, wenn ich die Poi anzünde. Verbrennungen gelten als die schmerzhaftesten Verletzungen, wusstest du das? Auch wenn nur die oberste Hautschicht betroffen ist, zieht der Schmerz sich durch dein ganzes Fleisch. Du fühlst das Brennen bis zum Knochen. Ein böse verbrannter Finger kann dafür sorgen, dass dein Arm bis zur Schulter schmerzt.« Ich krempelte das Bein meiner Hose bis zum Oberschenkel hoch und zeigte ihm eine Brandnarbe. Ein ovaler Fleck von der GröÃe einer Walnuss, wellig und pink wie eine Duschmatte.
»Du machst es trotzdem immer wieder. Warum?«
»Die paar Minuten Spiel sind es wert.«
Ich sah ihn schaudern. Sah, dass er verstand, was ich ihm sagen wollte. Kurzzeitige Freude konnte Schmerzen wert sein. Das galt nicht nur für meinen Feuertanz.
Marlon atmete tief ein und durch die Nase wieder aus. Er war dran und er kniff nicht. »Die Katze wurde nicht überfahren. Ich habe sie aus Scham vergraben.«
Mein Herz schlug schneller. Plötzlich war mir die Wahrheit doch nicht mehr so wichtig.
Marlon, können dir bitte die Worte ausgehen? Stottere oder schweig! Aber sag mir nicht, dass du Cat Stevens getötet hast.
»Es waren die Raben.«
Eine Schraubzwinge löste sich von meinem Brustkorb. Zugleich verwirrte mich seine Antwort. Raben töten doch keine Katzen.
Er erklärte es mir und ich verstand, warum er sich schämte. »Ich habe dir doch erzählt, dass Harpyien nach Erinnerungen suchen. An dem Punkt, kurz bevor sie sich erinnern, sind manche Gefühle den menschlichen schon sehr ähnlich; Gefühle, die ein Tier nicht kennt. Rache zum Beispiel. Die Katze muss einen von ihnen gejagt haben. Da drehten sie den Spieà um.« Er verschränkte seine Arme, die von Gänsehaut überzogen waren. Wie sehr er sich davor fürchtete, seine Menschlichkeit zu verlieren.
»Ist schon gut«, flüsterte ich. Eigentlich war das sein Spruch und er war ebenso wenig wahr, wenn ich ihn sagte.
»Nein, ist es nicht. Wir sind Mörder, Noa.«
»Das seid ihr nicht.« Ich rückte näher an ihn heran. Er hatte mich nicht berührt, seit wir hier saÃen. Es nicht einmal versucht. Nun nahm ich seine Hand. »Du weiÃt nicht, ob du so wirst wie sie. Und wenn, ist es nicht deine Schuld.«
»Du verstehst das falsch. Ich bin ein Mörder.«
Er hatte recht, ich verstand nicht. Ich analysierte seinen Satz. Eine Ich-Aussage. Gegenwart. Keine Zukunftsvision. Ich krallte meine Finger um seine, damit sie nicht zitterten. Er log. Er musste lügen.
Erinnere dich.
Die Stimme war seine. Sie war in meinem Kopf. Und ich erinnerte mich.
Nicht weitergehen. Nicht einsteigen.
»Du warst das? Du warst da, als die U-Bahn verunglückte?«
Marlon nickte. »Ja. Keine Lügen mehr. Damals habe ich dich das erste Mal gesehen.«
»Du musst mir das nicht erzählen«, sagte ich und meinte damit, dass ich nicht hören wollte, was jetzt kam.
»Iâ¦ich verâ¦versuche alles«, stotterte Marlon, »um dir vertrauen zu können. Als ich gestern dachte, du hättest mich verraten, da â« Er brach ab, aber ich verstand ihn auch so. Ich wusste, wie es sich anfühlte, verraten zu werden. Und ich wusste, was Verrat für Marlon bedeutete. Was es für ihn bedeutete, im Stich gelassen zu werden. Ich drückte zaghaft seine Finger. Er atmete durch und fuhr fort.
»Ich werde dir alles erzählen. Dann liegt es allein bei dir, ob du mich verrätst oder nicht. Du trägst Mitschuld, wenn du es nicht tust, das muss uns beiden
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