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Himmelsfern

Himmelsfern

Titel: Himmelsfern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Benkau
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noch, was ich in Sybilles Blick gelesen hatte. Für einen Moment hatte sie tatsächlich geglaubt, ich hätte es getan. Sie glaubte, ich hätte ihn erstickt.
    Ich erzählte Marlon, dass Joels Gesichtchen in meiner Erinnerung immer von kreisendem Blaulicht beschienen wurde, obwohl ich dieses Bild in der Realität nie vor mir gesehen hatte. Trotzdem hatte sich sein zahnloses Lächeln in meinem Kopf mit dem anklagenden blauen Lichtkreisel verbunden und mit der Sekunde aus Misstrauen in Sybilles Augen. Schließlich weinte ich. Erstaunlich. Ich hatte noch nie wegen meiner Mutter geweint. Ich hatte ihren Verlust als unvermeidlich hingenommen. Nun trauerte ich.
    Marlon küsste mir die Tränen von der Haut, eine Geste, die ich immer als fürchterlich kitschig empfunden hatte. Doch was war Liebe ohne ein wenig Kitsch? Ob kitschig oder nicht – es half. Es war schön. Traurig und schön.
    Â»Ich war fünf«, sagte Marlon später unvermittelt.
    Das mochte unspektakulär klingen, aber ich erkannte, was an diesen drei Worten so besonders war. Zum allerersten Mal begann er über seine Kindheit zu sprechen, ohne dass ich ihn darum bat oder ihm eine Frage stellte.
    Â»Corbin sieben, Ebony fünfzehn.« Ich horchte auf. Von einer Schwester hatte er mir nie erzählt. »Unsere Eltern konnten nicht mehr warten, sie waren schon immer lieber in den Wolken gewesen statt am Boden. Leider«, er lächelte schmal, »schlüpfen Kinder nicht aus Eiern, ansonsten hätten sie sich vermutlich niemals in Menschen zurückverwandelt. Ich muss ihnen im Nachhinein danken, dass sie uns auf den Abschied vorbereiteten. Wir wussten, dass sie uns verlassen würden. Sie waren immer ehrlich.«
    Â»Wo sind sie … nun ja … offiziell?« Im nächsten Moment wünschte ich, ich hätte nicht gefragt. Was, wenn sie für tot erklärt worden waren?
    Â»Ausgewandert«, erwiderte Marlon, als sei das eine Selbstverständlichkeit. »Es existieren Papiere, die sie als kenianische Staatsbürger ausweisen. Sie haben sogar Steuern gezahlt, kannst du dir das vorstellen? Ob sie in Kenia je angekommen sind, kontrolliert doch kein Mensch.«
    Sein halbherziges Grinsen beruhigte mich nicht, aber ich wagte mich dennoch weiter vor. »Was ist dann mit euch passiert? Kamt ihr in ein … Heim?«
    Â Â»Natürlich nicht.« Er wirkte fast entsetzt, dass ich seinen Eltern so etwas zutraute. »Sie hatten Pflegeeltern für uns ausgewählt. Es waren gute Freunde und noch bessere Menschen. Es war eigentlich nicht schlimm.«
    Doch, das war es, und das wusste er auch. Ich konnte mir Marlon erschreckend gut als kleinen Jungen vorstellen, mit seinen schwarzen Knopfaugen, einem Holzschwert in der Hand und riesengroßen bunten Gummistiefeln. Und buchstäblich mutterseelenallein.
    Â»Ich habe nur immer viel zu gerne Geschichten erzählt«, meinte er halb bedauernd, halb amüsiert, »und den anderen Kindern gesagt, dass meine Eltern Vögel geworden sind. Du kannst dir vorstellen, was passierte.«
    Â»Sie haben dich ausgelacht.«
    Â»Das auch. Zunächst war es harmlos, sie haben mir nicht geglaubt. Wie sollten sie auch? Was wehtat, waren Sprüche wie: He, Marlon, da kommt deine Mutter. Wo? Da oben, da fliegt sie doch, pass auf, sie kackt vom Himmel, sie scheißt auf dich!«
    Er versuchte, mich die Bitterkeit, die er fühlte, nicht sehen zu lassen. Doch ich sah sie in dem Hauch von Anspannung um seine Augen und sagte: »Blöde kleine Mistkröten!«
    Er zuckte mit den Schultern. »Vermutlich. Aber irgendwann glaubte ich, ich sei es, der einen Vogel hatte.« Er tippte sich an die Stirn, aber keiner von uns lachte.
    Â»Und dann hast du aufgehört zu sprechen.«
    Â»Für zwei Jahre, ja. Anschließend musste ich es völlig neu lernen, was sich über mehrere Jahre hinzog. Als Corbin begann, Gitarre zu spielen, fing ich heimlich an zu singen, und unsere Pflegeeltern ertappten mich dabei. Daraufhin schickten sie mich zu einer Therapie, in der man das Sprechen über das Singen neu erlernt.«
    Ich hatte längst bemerkt, dass er mit dem linken Mittelfinger wieder einen Takt auf die Bettdecke trommelte.
    Es war schon später Vormittag, als wir Marlons Zimmer verließen und uns in der Küche Frühstück machten. Emma kam dazu, lehnte sich in den Türrahmen und beobachtete Marlon, wie er Instant-Cappuccino aufgoss. Mich beachtete

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