Himmelsfern
trieben auf der öligen Oberfläche. Marlon hielt sich mit der linken Hand am Brunnenrand fest. Sein Gesicht verzerrte sich, der Arm musste noch mehr schmerzen, als er zugab. Ungeachtet dessen streckte er die andere Hand ins Wasser und lehnte sich nach vorne.
»Meine Uhr ist reingefallen«, rief ich einer Frau zu, die allzu skeptisch betrachtete, was er da tat.
Sie schüttelte angewidert den Kopf. »Dann soll er dir eine neue kaufen. Igitt!«
Das trübbraune Wasser war tatsächlich ekelerregend. Als Marlon den Arm bis zur Schulter hineintauchte, griff ich schnell nach seinen Haaren und hielt sie zurück, ehe die Haarspitzen ins Wasser fielen.
»Und?«, raunte ich.
Er grinste breit. »Volltreffer. Ich erreiche den Grund nicht, aber ich spüre mehr als genug. Sie hat den Boden des Brunnens besungen.«
»Was bedeutet das?« Ich ahnte etwas, aber das hieà nicht, dass ich es auch hören wollte.
Marlon sagte es trotzdem. »Ich muss da rein.«
Während er den Arm zurückzog und sich aufrichtete, tat ich, als müsste ich mich übergeben. »Das willst du nicht wirklich. Ich bin als Kind mal da reingefallen. Damals war das Wasser noch viel sauberer, ich bin trotzdem sofort krank geworden. Rotavirus. Habe drei Wochen lang reihern müssen. Salmonellen sind nichts dagegen.«
Marlon zuckte mit den Schultern und meine Worte taten mir sogleich leid. Er hatte schlieÃlich keine Wahl.
»Lass uns gehen«, meinte er dann, schüttelte alle Sorgen ab und sah mich erwartungsfroh an. »Ich will dir ein Eis holen und mir die Hände waschen.«
»Bitte in umgekehrter Reihenfolge. Wann kommen wir zurück?«
Er überlegte. »Nachts. Erinnerst du dich, was ich noch im Torbogen gehört habe? Es ging um das Spiegelbild des Löwen. Das Brunnenwasser ist viel zu dreckig, als dass sich irgendetwas darin spiegeln könnte.« Er deutete auf einen Scheinwerfer, der an einer Hausfassade gleich hinter dem Brunnen befestigt war. »Ich könnte mir vorstellen, dass es nachts, wenn die Lampe eingeschaltet ist, trotzdem eine schwache Reflexion gibt. AuÃerdem will ich nicht gesehen werden, wenn ich da reinsteige. Nachher hält man mich noch für verrückt.«
Na, das würde mich aber wundern.
Wir verbrachten den restlichen Tag damit, uns Normalität vorzuspielen, und schlenderten durch die Stadt. Marlon schien sich kaum vor den Huntsmen zu fürchten. Er erklärte mir, dass sie nie vor vielen Zeugen angriffen und die Menschenmenge daher einen sicheren Schutz darstellte. Dennoch behielt er wie immer den Ãberblick und sah sich permanent um. Ich hatte das für Nervosität gehalten, erkannte aber nun, dass es in Fleisch und Blut übergegangene, ständige Aufmerksamkeit war. Insgeheim gestand ich mir ein, dass er wirklich viel mit einem Raben gemein hatte. Auch diese waren immer wachsam, jederzeit fluchtbereit, aber dadurch nicht weniger neugierig und verspielt.
Am frühen Abend brachte er mich nach Hause. Als ich ihn vorwarnte, dass mein Vater daheim sein würde, entschied Marlon, dass es Zeit war, sich vorzustellen. Ich widersprach zunächst halbherzig, doch er bestand darauf und so betraten wir gemeinsam die Wohnung.
Papa saà am Computer und sah zunächst nur flüchtig auf, als wir Hallo sagten. Dann gefroren ihm die Gesichtszüge. Er rollte auf seinem Drehstuhl aus der Büroecke zum Esstisch und forderte uns auf, Platz zu nehmen. Sein »Setzt. Euch. Doch!« klang, als ob ein Zeichentrickschurke Freundlichkeiten vortäuschte. Wir gehorchten beide unverzüglich.
»Kaffee?«, fragte Papa und zu meinem Entsetzen antwortete Marlon: »Gerne.«
»Noa, du weiÃt sicher, wie dein Freund seinen Kaffee trinkt. Machst du uns bitte welchen?«
Ich biss die Zähne zusammen. Dieser hinterhältige Schuft! Er tat das nur, um mich loszuwerden. Marlon wirkte jedoch amüsiert statt bis ins Mark verängstigt, und so seufzte ich genervt, ging in die Küche und knallte die Kaffeekanne in die Maschine.
Als ich mit dem Kaffee in der einen und drei Tassen in der anderen Hand zurückkam, schien Marlon noch immer entspannt. Gerade berichtete er meinem Vater mit melodischer Stimme, aus der die T und D herausklangen, dass er im Sommer ein Biologiestudium beginnen würde, zu dessen Zulassung ein besonderes Stipendium nötig war, das er ergattert hatte. Ich musste mir das Lachen verkneifen. Aber was
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