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Himmelsfern

Himmelsfern

Titel: Himmelsfern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Benkau
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Ich strich mit meinen Fingern über einen seiner Flügel. Sein Gefieder war ganz weich, aber darunter verborgen spürte man noch, dass diese Flügel Kraft besessen hatten. Kraft, die Corbin nie wieder würde einsetzen dürfen. Behutsam hob ich ihn auf – er war beängstigend leicht – und legte ihn auf sein Bett, damit der harte Betonboden seine empfindlichen Federn nicht abknickte. Dann ging ich zurück zu Marlon.
    Er stand in seinem Zimmer am Fenster und sah hinaus in den Tag. Leere lag in seinem Blick, das Schwarz seiner Pupillen schien bodenlos und düster wie die Nacht an einem Ort, wo es keine Sterne gab und niemals geben würde.
    Â»Komm her«, flüsterte ich, aber er bewegte sich nicht. »Marlon, bitte, ich brauche dich jetzt.« Und du brauchst mich.
    Vielleicht war es ungerecht, meine Bedürfnisse vorzuschieben, aber er gehorchte und ließ sich in den Arm nehmen. Wir standen Stunden dort am Fenster. Mein Gesicht an seiner Brust, seins in meinen Haaren. Sein Herz schlug kräftig und nur geringfügig schneller als meins. Ich klammerte mich an diesen Takt, denn er sagte mir, dass Marlon noch hier war. Dass Marlon noch Marlon war. Meine Haare wurden nass, ich spürte seine Tränen an meinen Ohren, an meinem Hals. Sie sickerten in mein T-Shirt. Irgendwann wollte er sich von mir lösen, aber ich hielt ihn weiter fest. Er sagte kein Wort, deutete nur mit dem Blick zur Tür.
    Â»Wir kümmern uns um alles. Wir werden ihn begraben. Dazu ist noch genug Zeit. Ruh dich ein bisschen aus.« Ich zog ihn aufs Bett, legte mich neben ihn und umarmte ihn fest, damit er nicht aufstand.
    Er widersetzte sich mir nicht. Und sprach kein Wort. Ich streichelte ihm die angetrockneten Tränen von den Wangen, strich ihm durch die Haare, bis sie von meinen feuchten Händen strähnig waren, und hoffte darauf, er würde endlich etwas sagen. Marlons Finger zuckten unkontrolliert und ohne Rhythmus an seinem Oberschenkel. Er schwieg.
    Er schwieg noch immer, als wir zu Emma gingen, die ihn in den Arm nahm und tröstende Worte murmelte. Worte, die aus meinem Mund nichtssagend geklungen hätten, doch von ihr gesprochen so viel Mitgefühl bargen, dass mir gleich wieder die Tränen kamen. Er reagierte kaum darauf, verschwand in Corbins Zimmer und schloss die Tür hinter sich.
    Â»Gib ihm Zeit.« Emma musste aufgefallen sein, wie sorgenvoll ich Marlon nachsah.
    Â»Er redet nicht mit mir«, flüsterte ich. »Kein Wort.«
    Â»Das wird er wieder. Er steht unter Schock.«
    Â»Ich fürchte, es ist schlimmer als das.« Er hatte ihr nie von seinem Sprachproblem erzählt. Emma konnte nicht wissen, was sich vor mir ausbreitete wie die Seiten eines offenen Buches.
    Marlon hatte nicht nur seinen Bruder, sondern auch seinen Takt verloren, und ohne diesen konnte er nicht sprechen.
    Â»Hör mal«, sagte Emma und schien sich dabei sichtlich unbehaglich zu fühlen. »Es wird nicht leicht werden, aber wir werden Corbin … verbrennen müssen.«
    Ich ließ das Gesicht in die Hände sinken. Ich hatte Marlon versprochen, dass wir ihn begraben würden. Aber verbrennen? Ich stellte mir den Geruch von versengten Federn vor und schluckte an zu viel Speichel, um nicht zu würgen.
    Â»Wir haben das einander für diesen Fall versprochen.« Ihre Stimme war fest, aber ihre Hände spielten nervös am Saum ihrer Bluse. »Wenn die Huntsmen tote Harpyien in die Finger bekommen, bringen sie diese in ihre Versuchslabore. Keiner von uns will aus dem Grab geholt und auf ihren Labortischen zerschnibbelt werden. Erst recht nicht Corbin.«
    Ich nickte mechanisch. Sie waren für das Schlimmste gewappnet, hatten an alles gedacht. Wie schrecklich sich der Gedanke anfühlte, dass auch Marlon mit seinen achtzehn Jahren schon wusste, was nach seinem Tod mit seinem Körper geschehen würde.
    Trotz Emmas Vorwarnung fühlten sich die nächsten Stunden surreal an. Ich beobachtete uns wie durch Nebel, fühlte mich abwesend, weil ich nicht gebraucht wurde. Zwar war ich in Marlons Nähe, aber er schien trotzdem unendlich weit weg. Ich sah unsere Reflexionen in dem großen Spiegel in Corbins Zimmer, aber ich sah uns nicht. Ich streckte die Hand nach ihm aus und konnte ihn doch nicht erreichen. Wenn er wenigstens irgendetwas gesagt hätte. Womöglich hätte er es versucht, wenn ich ihn darum gebeten hätte, aber ich wagte es nicht, aus Angst, es

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