Himmelsfern
traf einen empfindsamen Teil in mir mit brachialer Wucht. Das konnte er nicht von mir verlangen. Mein Inneres fühlte sich an wie von einer Explosion erschüttert und zitterte unter dem Nachhall.
»Dir und Emma vielleicht«, hörte ich mich nuscheln. Alles fühlte sich taub an. Ich sagte das bloÃ, weil ich ihm vermutlich alles erzählt hätte, was er hören wollte. Nur damit er mich auch tatsächlich gehen lieÃ. Zumindest redete ich mir das ein, denn verstehen konnte ich meine Worte nicht. Tief in meinem Inneren fragte eine leise Stimme nach dem Motiv seiner Taten. Ein winziges bisschen von mir wollte begreifen, warum er all das getan hatte; wollte eine Erklärung; wollte vielleicht sogar einen Grund, um ihm zu verzeihen. Energisch brachte ich dieses bisschen zum Schweigen.
Marlon erstaunte mich ein weiteres Mal, als er sagte: »Corbin meint es nicht böse, das musst du mir glauben. Er hat Schreckliches durchgemacht. Sie haben ihm alles genommen, was ihm wichtig war. Und ⦠die Zeit läuft ihm weg.« Er schluckte schwer, ich hörte das klackende Geräusch aus seiner Kehle.
»Du sprichst in Rätseln.« Das war ein deutlicher Vorwurf, aber Marlon nickte nur, seine Miene spiegelte irgendetwas zwischen Amüsement und Verzweiflung.
Ich gab es auf, etwas verstehen zu wollen, lehnte meinen Kopf an die Fensterscheibe und starrte nach drauÃen.
Bald erreichten wir die Stadt und sofort fiel weitere Anspannung von mir ab. Marlon hielt Wort und fuhr auf dem schnellsten Weg in mein Viertel. Er hielt direkt vor der Haustür und mir rieselte ein kalter Schauer über den Rücken. Woher wusste er, wo ich wohnte?
»Warte«, sagte er, als meine Hand schon an der Türverrieglung lag. Hastig sah er sich um. »Du bist mir noch eine Antwort schuldig.«
Ich war ihm eine Tasse voll kochendem Tee im Gesicht schuldig, sonst nichts, aber er wiederholte erneut, was er von mir wollte.
»Du wirst kein Wort sagen. Zu niemandem.«
»In Ordnung«, murmelte ich halbherzig, doch offenbar log ich miserabel.
Marlons Gesicht wurde eisig. »Wir sind nicht so weit gekommen, um nun an der Polizei zu scheitern. Uns bleibt weder Zeit, noch haben wir eine Wahl. Aber wir haben nichts zu verlieren. Jeder, der von dir etwas über uns erfährt, ist tot. Hast du das verstanden, Noa? Dâ¦du â¦Â« Er stockte und sah mir ins Gesicht, das schreckensstarr sein musste. Für eine Sekunde wurde sein Blick weich, doch schon im nächsten Augenblick schien mir das nur eine Illusion gewesen zu sein. »Du willst sicher nicht am Tod deiner Leute schuld sein.« Brutal knallte er mir die Drohung erneut vor den Kopf.
Ich riss die Tür auf, stolperte aus dem Wagen und rannte zur Haustür. Marlons Worte warfen Echos durch jede Windung meines Gehirns und reanimierten den Kopfschmerz. Er hatte gedroht, meine Familie und Freunde umzubringen! Das war der Gipfel der Schrecklichkeiten, die man mir in den letzten vierundzwanzig Stunden angetan hatte, und dass das ausgerechnet von ihm kam, schmerzte auf ätzende Weise. Ich hörte, wie Marlon die Beifahrertür zuzog, sah ihn im Augenwinkel wegfahren.
Zu spät fiel mir auf, dass ich vergessen hatte, mir das Kennzeichen zu merken.
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Wie man Alltag imitiert
Papa stand nicht auf, als ich mit hängendem Kopf in die Wohnung trat. Er saà am Esstisch, beide Ellbogen auf der Tischplatte, die Hände zu Fäusten geballt. Druckstellen an seiner Stirn verrieten, dass er lange den Kopf auf die Fingerknöchel gestützt hatte. Auf dem Stuhl ihm gegenüber saà Frau Martin. Sie atmete erleichtert durch. Auch Papa zog Luft ein, jedoch schien er eher um Beherrschung zu ringen.
»Es tut mir leid«, murmelte ich, mein Blick haftete auf meinen Chucks.
Er nickte. »Glaub ich dir.« Seine Stimme war so trocken, dass er beim kleinsten Wutfunken vermutlich in Flammen aufgegangen wäre wie Reisig nach sechs Wochen Dürre. »Wo warst du?«
»Bei einer Freundin.«
»Ah. Die maskuline Freundin mit dem Audi TT, schätze ich.«
Oh verdammt. Er hatte Marlon vom Fenster aus gesehen. Hatte ich bis eben bis zum Hals im Mist gesteckt, schwappte dieser nun bis an meine Unterlippe.
»Hattest du nicht gesagt, du kennst ihn nicht? Das war also gelogen. Hoffe ich zumindest. Oder bleibst du immer gleich über Nacht, wenn du jemanden kennenlernst?« Papa befand es nicht einmal für nötig, mich
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