Himmelsfern
anzusehen.
»Nein. Es waren ⦠besondere Umstände.«
»Ich bin gespannt.«
Frau Martin räusperte sich geräuschvoll. »Ich geh dann mal besser. Bis später.« Die Art, mit der sie den Handrücken meines Vaters flüchtig berührte, lieà es mir warm im Bauch werden. Ich lächelte sie an.
»Ist Ihre Katze wieder aufgetaucht?«, fragte ich, als sie an mir vorbeiging.
Traurig schüttelte sie den Kopf. »Ich bin nur froh, dass du wieder aufgetaucht bist. Dein Vater ist fast gestorben vor Sorge.« Der Vorwurf in ihrer Stimme entging mir nicht. Ich konnte sie verstehen und brodelte innerlich vor Zorn auf Marlon. Wie konnte er verlangen, dass ich das hier schweigend hinnahm, nach alldem, was sie mir angetan hatten!
Ich wartete, bis Frau Martin gegangen war, dann trat ich vorsichtig näher an Papa heran.
»Ich wünschte, ich könnte dir erklären, was schiefgelaufen ist. Aber das geht nicht. Können wir es dabei belassen?«
Er blickte auf. Erstmals sah er mich an und zog kritisch die Augenbrauen zusammen. »Du siehst furchtbar aus. Ist dir ⦠ist dir etwas zugestoÃen?«
»Nein.« Ich zwang ein Grinsen auf mein Gesicht. »Nichts, was nicht jeder in meinem Alter durchmacht.« Ihn an seine eigenen wilden Zeiten zu erinnern, war der einzige Plan zur Schadensregulierung, den ich hatte.
»Hast du eine Vorstellung, welche Sorgen ich mir gemacht habe? Noa, vor ein paar Tagen hätte ich dich beinahe bei diesem Zugunglück verloren, und kaum bist du aus dem Krankenhaus zurück, bringst du diesen Klopper und verschwindest ohne ein Wort. Warum? Warum hast du nicht wenigstens angerufen? Oder eine SMS geschrieben? Herrgott, du schreibst doch den ganzen Tag über bescheuerte SMS!«
Ich seufzte. Verzweifelt, weil mir keine Lüge einfiel und die Wahrheit nicht infrage kam. »Es hat sich eben nicht ergeben. Ich habe es vergessen.«
»Vergessen«, wiederholte er müde. »Ja, ich hätte mich auch fast vergessen. Lass mich allein, Noa. Ich muss die Polizei anrufen und die Vermisstenanzeige zurückziehen. AuÃerdem muss ich versuchen, deine Mutter zu erreichen, und sie beruhigen. Sie ist auf dem Weg hierher.«
»Sie kommt extra aus Japan zurück?« Meine Mutter arbeitete als Dolmetscherin und verbrachte die meiste Zeit in Asien.
»Tut sie. Als sie heute Morgen hörte, dass du über Nacht weggeblieben bist, ohne ein einziges, blödes, verdammtes, beschissenes Wort zu sagen«, Papa atmete ein weiteres Mal sehr tief ein und langsam wieder aus, »da hat sie sich in den nächsten Flieger gesetzt. Stell dich auf die erste Ohrfeige deines Lebens ein.«
Ich berührte meine Wange und flüsterte: »Die habe ich mir wohl verdient.«
»Ja.« Papa kämpfte sich schwerfällig auf die FüÃe. »Und jetzt geh in dein Zimmer. Du bleibst die nächste Woche zu Hause, verstanden?«
Oh, ich verstand ihn gut, wirklich. Aber diese Strafe war zu hart. Vor allem, da ich keine Schuld trug und es nur deshalb nicht erklären konnte, um sein Leben nicht zu gefährden. »Du hast immer gesagt, Hausarrest sei nichts als sinnlose Machtdemonstration«, versuchte ich ihn umzustimmen.
»Das habe ich einer Tochter gegenüber behauptet, die mich angerufen hat, wenn sie länger wegblieb. Du warst es, die die Regeln geändert hat, Noa. Nicht ich.«
Nachdem ich geduscht und etwas gegessen hatte, öffnete ich das Fenster in meinem Zimmer sperrangelweit, legte mich aufs Bett und starrte an die Decke. Vor wenigen Stunden noch hätte ich alles dafür gegeben, um in meinen eigenen vier Wänden sein zu dürfen. Nun fühlte ich mich hier gefangen und das lag nicht am Hausarrest. Es waren die Gedanken, die mich gefesselt hielten. Ich kam mir vor, als stünde ich auf einem schmalen Balken über einem gähnenden Abgrund. Ich musste darübergehen, durfte keinesfalls stehen bleiben. Aber mich hemmte, dass ich beim kleinsten Fehltritt ins Ungewisse stürzen würde. Von allen Seiten riss der Sturm an mir. Was sollte ich nur tun? Am liebsten hätte ich mich auf den Balken gelegt, mich mit Armen und Beinen festgeklammert und gewartet, bis jemand kam, um mir die Entscheidung abzunehmen. Aber es kam niemand. Es gab niemanden, mit dem ich über das Geschehene sprechen konnte. Niemanden auÃer Marlon. Und Marlon â ich hielt mich an dem Gedanken fest, als wäre er eine
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