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Himmelsfern

Himmelsfern

Titel: Himmelsfern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Benkau
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Sicherungsleine – war nicht echt. Er spielte mir etwas vor, log, manipulierte und bedrohte mich. Das Schlimmste war, dass ich es wusste und mich ihm dennoch nicht entziehen konnte. Ich war eine ihrer Entscheidungskraft beraubte Puppe. Er zerrte an meinen Fäden. Und dabei lächelte er mich an.
    Ãœber meine Grübeleien musste ich eingeschlafen sein. Ich erwachte fröstelnd, schlug die Augen auf und schrak zusammen. Ein mannsgroßer Schatten fiel in mein Zimmer. Mit einem Krächzen breitete er die Arme aus und berührte mich.
    Hastig blickte ich zum Fenster, wo sich im gleichen Moment ein großer schwarzer Vogel vom Sims erhob und Richtung Horizont davonflog, wo die Sonne in einem Farbenmeer aus Orange und Flieder verschwamm.
    Erleichtert ließ ich das Gesicht zurück ins Kissen sinken. Jetzt machten mich schon Vögel verrückt. Das Tier hatte sicherlich nur an dem Meisenknödel picken wollen, der das ganze Jahr über in meinem Fensterrahmen hing. Üblicherweise kamen Spatzen, Meisen oder hin und wieder ein Türkentaubenpärchen. Bei meinem heutigen Besucher hatte es sich dagegen eindeutig um einen Raben gehandelt – und zwar einen ziemlich großen. Kopfschüttelnd stand ich auf, schloss das Fenster und ließ meinen Blick dabei über den Hof und die Kleingärten schweifen. Der Vogel war verschwunden.
    Nachdem ich den Nachmittag und frühen Abend verschlafen hatte, lag ich fast die ganze Nacht wach. Die Dunkelheit bot den furchtsamsten unter meinen Gedanken die perfekte Kulisse, um sich richtig auszutoben. Ich war heilfroh, als die Schwärze des Himmels in den Morgenstunden endlich zerfloss und dem neuen Tag Platz machte.
    Meine Mutter traf am frühen Vormittag ein und entgegen der Prognose meines Vaters bekam ich keine Ohrfeige. Stattdessen setzte sie auf radikalere Methoden körperlicher Züchtigung, indem sie mir mit ihrer Umarmung die Luft aus den Lungen quetschte. Ich ließ Tiraden aus Vorwürfen über mich ergehen und mich zwischendurch ungefähr hundertmal auf Stirn und Wangen küssen. Niemand kam dazu, das auf dem Tisch bereitstehende Frühstück zu essen. Selbst Papa betrachtete nur, wie die Wurstscheibe auf seinem Brötchen sich langsam wellte. Erst als Mama eine Pause einlegte, um eine Tasse schwarzen Kaffee runterzukippen, ohne dabei ein Mal abzusetzen, kam ich zu Wort.
    Â»Wie geht’s Rex? Hast du ihn in Japan gelassen?«
    Wer nun glaubt, Rex sei ihr Hund, den muss ich enttäuschen. Es wäre einfacher, wenn er ein Hund wäre, zumindest würde ich ihn dann ganz sicher wenigstens ein bisschen mögen oder ihm aus Mangel an Alternativen ein Stöckchen zuwerfen. Aber so einfach ist es nicht. Rex ist ihr Lebensgefährte. Ich habe keine Ahnung, wie er wirklich heißt – es interessiert mich auch nicht –, jeder scheint ihn einfach Rex zu nennen. Mama war ihm regelrecht verfallen. Nach Joels Tod war sie monatelang vollkommen verzweifelt, war abgemagert und nur noch durch Antidepressiva und Kaffee lebensfähig gewesen. Irgendwann hatte sie einen Hauch von Glück im Fahrtwind und im Adrenalin gefunden, wenn sie auf ihrem Motorrad mit zweihundert Sachen die Autobahnen entlangjagte. Damals hatten Papa und ich ihre Maschine geliebt – verhinderte das Motorradfahren doch, dass Mama sich vollends verlor. Sie lernte Rex, Großhandelsvertreter für Unterhaltungselektronik und Harley-Fahrer, auf einem ihrer Biker-Treffen kennen. Während sie sich von mir und Papa immer weiter entfernte, brauste sie buchstäblich mit Vollgas in seine Richtung. »Freiheit und Abenteuer« nannte sie das. Und sie ließ uns wissen: »Ich bin zu jung, um mit fünfunddreißig lebendig begraben zu werden.« Offenbar war unsere Familie ein Sarg für sie geworden, seit ihr Baby am plötzlichen Kindstod gestorben war.
    Meine Frage nach ihrem Neuen brachte sie leicht aus der Fassung. Sie tupfte sich den Mund ab. Als sie die Serviette wieder senkte, lag ein nervöses Lächeln auf ihren Lippen. »Dem geht es gut, alles bestens. Kennst ihn doch.« Ja, bedauerlicherweise.»Solange nur genug Sprit im Tank ist …«
    Papa war so höflich, über den flachen Scherz auf Kosten des noch flacheren Rex zu lachen, doch Mama verbarg beschämt den Blick hinter ihren langen umbrafarbenen Haaren. Rasch goss sie sich Kaffee aus der Thermoskanne nach und trank das dampfende Gebräu so schnell, als

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