Himmelsfern
verbargen, die ich so dringend brauchte. Es wunderte mich überhaupt nicht mehr, dass ich ihn für einen Engel gehalten hatte. Er sah unfassbar aus â und war mir vor allem unfassbar überlegen. Der Zaun bot plötzlich keine Sicherheit mehr, nicht die geringste. Ich gruselte mich vor diesem Typen und wünschte mich weit, weit weg. Trotzdem rührte ich mich nicht.
»Sonst«, sagte er laut und wies mit einer Geste an mir vorbei, »droht dir vermutlich eine Anzeige wegen Hausfriedensbruch.«
Hinter mir brüllte jemand: »Ey, du da!«, und ich zuckte zusammen, konnte mich jedoch nicht umdrehen.
Stephan Olivier lehnte sich vor, sodass seine Nase fast den Zaun berührte. »Und nebenbei der Verlust deiner Seele. Für den Fall, dass du überhaupt noch eine hast.«
»Ey! Was hast du hier verloren?« Ein bulliger Mann packte mich am Arm. Eine Wolke aus SchweiÃ- und Alkoholausdünstungen umnebelte mich und mein stilles StoÃgebet â Gott, lass das einen Packarbeiter und keinen Fahrer sein! â dämpfte die Furcht, die Stephan Olivier in mir geschürt hatte.
»Ich ⦠ich habe mich wohl verlaufen.«
Olivier nickte, ein ironisches Lächeln umspielte seine Lippen. »Hast du.«
»Verdammtes Pack!«, knurrte der Mann, packte mich am Oberarm und zog mich zum Rolltor. Sein grober Griff fühlte sich auf irritierende Weise sicher an und seine Schimpftiraden und Drohungen, beim nächsten Mal die Polizei zu rufen, überhörte ich. Stattdessen sah ich mich immer wieder nach Stephan Olivier um, der am Zaun stehen geblieben war und sein Frettchen kraulte. Als der Mann von der Spedition das Tor öffnete, um mich rauszuwerfen, stand mein Exschutzengel noch immer an derselben Stelle. Diesseits des Zaunes hatte ich eine Heidenangst vor ihm. Ich warf mich herum und rannte zurück zum Fitnessstudio, als wäre der Teufel hinter mir her.
Am Abend saà ich am geöffneten Fenster, sah hinaus und grübelte über das Gespräch nach, das mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet hatte. Langsam sank die Sonne und goss warmes Abendlicht über die Wellblechdächer der Kleingartenanlage. Ich beobachtete zwei meiner Raben, die sich im Hof um ein metallisch schimmerndes Spielzeugauto zankten, das ein Kind dort liegen gelassen hatte. Ein Blick auf die Uhr eröffnete mir, dass Papa in einer guten Stunde zu Hause sein würde. Er hatte versprochen, einen Film aus der Videothek mitzubringen, mit dem wir meinen letzten Tag als Knasti ausklingen lassen wollten. Mama hatte dichtgehalten und ihm von meinem heimlichen Ausflug nichts erzählt.
Die Raben hielten plötzlich in ihrem Spiel inne, plusterten das Gefieder auf und starrten in Richtung Gärten. Der kleinere â ich nannte ihn Pinsel, weil auf seinem Kopf ein paar abgeknickte Federn wie ein Borstenbüschel zu Berge standen â stieà sich vom Boden ab und hob sich mit ein paar peitschenden Flügelschlägen in die Luft. Der andere hüpfte mit weit vorgerecktem Hals auf eine Hecke zu und krächzte wütend. Ich glaubte ein Knurren zu hören, dann entdeckte ich einen kleinen Schatten, der durch einen der Gärten huschte. Er war zu schnell wieder verschwunden, als dass ich hätte erkennen können, ob es sich um eine groÃe Ratte oder eine sich duckende Katze handelte, aber mein erster Gedanke war: Cat Stevens, der graue Kater von Frau Martin.
Einer der Raben stieg in die Luft auf und landete schimpfend im Geäst eines Apfelbaums. Er sah die Katze â wenn es denn eine Katze war â offenbar immer noch.
Ich vergewisserte mich, dass noch Zeit blieb, bis Papa kam, und lief nach drauÃen. Zwar standen meine Aussichten, eine verängstigte Katze einzufangen, äuÃerst schlecht, aber wenn mir nur ein Blick auf das Tier gelänge, wäre das ein Hoffnungsschimmer für Frau Martin.
Die Raben flüchteten, als ich mich näherte. Blöd, nun hatte ich keine Spur, der ich folgen konnte, und musste auf gut Glück in den Schrebergärten suchen. Ich kletterte über verfallene Zäune, spähte unter Dornenhecken und durch die zerschlagenen Scheiben einiger Lauben. Immer tiefer drang ich in das verlassene Garten-Labyrinth. Keine Spur von Cat Stevens, ich schreckte nur ein paar Tauben auf. AuÃerdem begegneten mir gefühlt tausend Spinnen, Kellerasseln sowie eine Ratte, die mich anfauchte und schleunigst ein Apfelkerngehäuse aus meiner
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