Himmelsfern
Bruder einfach so in die Schranken wies. Meinetwegen. Eine angenehm kribbelnde Wärme schlängelte sich durch meinen Bauch. Marlon strich zaghaft meinen Arm entlang, meine Schulter, kämmte durch meine Haarspitzen und berührte vorsichtig meinen Hals. Ich hielt die Luft an. Vermutlich fühlte er meinen Puls rasen â wie er das wohl einschätzte? Glaubte er, dass ich Angst hatte? Oder dass ich seine Berührung angenehm fand? Ich wusste es selbst nicht. Es war nichts davon und beides zugleich. Meine Hände schwitzten plötzlich, mein Mund wurde trocken. Seine Fingerspitzen fuhren mit leichtem Druck die verspannten Muskelstränge in meinem Nacken nach. Das war angenehm, befand mein Körper, doch mein Verstand rang noch immer mit dem Bedürfnis, Marlon wegzustoÃen. Es war falsch, ihn gewähren zu lassen. Aber meine Glieder gehorchten mir nicht. Marlons Berührungen linderten den Schmerz in meinem Genick und verursachten Qualen an anderen Stellen. Stellen, die ich nicht lokalisieren konnte. Er hatte mich in zwei Teile zerrissen, die sich völlig uneinig waren. In meinen Ohren erklang das Echo des Songs, den ich gehört hatte, als ich vergangene Nacht aufgewacht war. Denn man muss ertragen , heutzutage, hieà es dort. Und ich hab fast nie an dich gedacht, auÃer am Tag und in der Nacht.
»Ist das okay?«, flüsterte Marlon.
»Ich weià es nicht. Ja und nein. Beides.« Das klang nach Unfug, war aber die Wahrheit.
Er nahm die Hand weg und auf meiner Haut blieb ein hungriges Sehnen zurück, doch mein Inneres entspannte sich. Ich war mir nach wie vor uneins mit mir selbst und bis ins Mark verwirrt. Es dauerte eine Weile, bis ich es schaffte, aufzusehen. Marlon blickte auf die Risse im Asphalt. In seinen Augen war kein Himmel mehr zu sehen, sondern tiefstes, schwärzestes Unglück.
»Verstehst du jetzt?«, fragte er, ohne mich anzusehen.
Ich verstand überhaupt nichts, dabei wollte ich es so gerne. Was hatte er eben gemacht? Wüsste ich es nicht besser, würde ich glauben, dass er auf irgendeine magische Art mein Denken manipulierte. Wieder fühlte ich mich wie über einem Abgrund. Diesmal war Marlon da, aber noch immer wusste ich nicht, ob er mich halten oder hinabstoÃen würde. Das Schlimmste war, dass er es selbst nicht zu wissen schien.
Nur zeitverzögert registrierte ich, dass ein Taxi auf unserer Höhe stehen blieb.
»Ich denke, dein Typ wird verlangt«, meinte Marlon.
Jetzt erst erkannte ich meine Mutter, die den Fahrer bezahlte, mich aber bereits fest im Visier hatte.
»Verdammt«, zischte ich. »Du solltest besser verschwinden.«
Er schwang sich von der Mauer. »Bekommst du Ãrger?«
Es sah verdächtig danach aus. »Ach was. Ich habe nur keine Lust auf ein Verhör. Geh!« Vor allem hatte ich keine Lust auf eine Standpauke vor seinen Augen.
»Wenn du darauf bestehst.« Marlon nickte widerwillig und tippte sich an die Schläfe wie an die Krempe eines imaginären Hutes. »Wir sehen uns bald. Machâs gut, Mag.«
Mag? Wie kam er auf Mag? Stand das für Maggy? Hatte er etwa meinen Namen vergessen? Na prima. Ich begann ihm zu vertrauen, lieà zu, dass er mich und mein Herz berührte, und er? Er vergaà meinen Namen. Fast hätte ich darüber gelacht. Das war allzu bezeichnend für unsere Beziehung.
»He!« Mama kam aus dem Taxi gesprungen, eilte auf mich zu, winkte aber Marlon hinterher. »Junger Mann, Momentchen mal, bitte!«
Er drehte sich um, hob entschuldigend die Arme, zuckte mit den Schultern und grinste breit und spitzbübisch. Es wirkte aufgesetzt und künstlich. Ich schrak zusammen, als er plötzlich auf die StraÃe sprang. Jemand hupte, doch Marlon huschte geschmeidig zwischen den fahrenden Autos hindurch auf die andere StraÃenseite.
»Noa!« Mama stemmte beide Hände in die Hüften. Ich musste grinsen, als mir auffiel, dass ich vor Kurzem noch genauso vor Marlon gestanden hatte. Davon abgesehen, dass meine Mutter hüftlanges Haar hatte, sahen wir uns sehr ähnlich, ganz besonders â das sagte Papa immer â, wenn wir wütend waren und unsere Augen braune Funken sprühten.
»Ist das deine Auffassung von Hausarrest?«
»Ich teste gerade eine alternative Variante.« Verlegen kratzte ich mich an der Nase und widerstand dem Drang, Marlon noch einmal nachzusehen. Mama gab diesem Verlangen für mich nach.
»War
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