Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Himmelsfern

Himmelsfern

Titel: Himmelsfern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Benkau
Vom Netzwerk:
dich in irgendeine Opferrolle drängen, wenn …«
    Rosalia sprach weiter, aber ich hörte nur noch halbherzig zu. Marlon hatte mich längst in diese Rolle gedrängt, aber das konnte ich Rosa natürlich nicht erzählen. War das Ganze tatsächlich derart einfach?
    Â»Was die Geschichte betrifft, die er für dich aufgeschrieben hat«, fuhr meine Freundin fort, »habe ich zwei Ideen. Numero uno: Kennst du die Legende vom Wasserpferd?«
    Â»Nein, aber meine Mutter hat während meiner Schwangerschaft in China mal pulverisiertes Seepferdchen gegessen. Das ist dort irgendein abartiges Mittel zur Steigerung der Fruchtbarkeit. Wie Tigerhoden. Werde ich jetzt ein Wer-Seepferdchen?«
    Langes Schweigen. Dann ein trockenes: »Nee, du bist ja so was von witzig, Noa. Mal im Ernst. Das Wasserpferd ist eine Sagengestalt. Eine Art Seeungeheuer, es kann die Gestalt eines Fisches, eines Pferdes oder eines schönen Mannes annehmen. Man erkennt es in Menschengestalt immer daran, dass ein Zipfel seiner Kleidung nass ist.«
    Ich erwischte mich dabei, wie ich in Gedanken abcheckte, ob Marlon irgendwo nass gewesen war. »Negativ.«
    Â»Klar«, erwiderte Rosa. »Das hätte ich auch getippt. Vermutlich ist die Geschichte von Brijan, dem Meermann, einfach nur eine Metapher. Marlon hat sich wahrscheinlich auf irgendwas Zwielichtiges eingelassen und befürchtet, dich da mit reinzuziehen.« Sie pausierte – ich sah sie vor mir, wie sie entschieden nickte und rote Bäckchen bekam. »Das ist es. Ohne jeden Zweifel.«
    Das also war die Lösung des geheimnisvollen Marlon-Rätsels? Das klang gar nicht so kompliziert und ausgesprochen logisch. Mein Satz des Tages – das ergibt keinen Sinn – begann zu zerlaufen, denn plötzlich ergab das Ganze Sinn.
    Wenn jedoch jemand in der Lage war, einfache, solide und logische Konstruktionen ins Wanken zu bringen, dann war es Rosalia.
    Â»Stell dir vor«, hauchte sie durch die Leitung und ich musste gegen den Drang ankämpfen, die Verbindung zu kappen, weil ich wusste, dass ich das, was nun folgte, nicht hören wollte. »Stell dir doch mal vor, er wäre ein Terrorist oder so was.«
    Â»Wie romantisch«, meinte ich trocken.
    Â»Natürlich nur gezwungenerweise. Eigentlich will er das gar nicht. Und du wirst ihn selbstverständlich raushauen und …«
    Ich werde bald fortgehen , hörte ich seine Stimme in meinem Kopf, sie überlagerte selbst Rosalias. Was meinte er mit fortgehen? Du bist dann in Sicherheit.
    Stopp! Bilder, raus aus meinem Kopf!
    Ich hatte überhaupt keine Lust, mir Marlon mit einem Sprengstoffgürtel um die Taille vorzustellen, zumal ich von der Möglichkeit des Aussteigens bei irgendwelchen terroristischen Vereinigungen noch nie gehört hatte. Raushauen klang in jedem Fall böse. Verdammt böse.
    Â»Ich werde ihn nirgendwo raushauen. Ich kenne ihn doch kaum.«
    Leider kannte ich ihn ziemlich gut mit einer Sturmhaube auf dem Kopf und einer Pistole in der Hand.
    Es war zu still zum Schlafen. Die Nacht presste sich gegen das Fenster, wollte eingelassen werden. Silbriges Mondlicht zwängte sich durch jede Ritze in meinen Vorhängen. Ich wälzte mich zwischen Decken und Laken herum, fröstelte und schwitzte zugleich. Wenn ich die Augen schloss, glaubte ich, durch meine Lider hindurch einen Schatten auf mir ruhen zu sehen. Er wartete. Auf mich. Ich versuchte, mich abzulenken, aber sobald sich meine Gedanken von Marlon lösten, drifteten sie zu Dominic. Unser Streit zwickte mich noch immer wie ein Nietnagel. Einer von diesen kleinen Drecksdingern, denen man nicht ansieht, wie böse sie wehtun. Aber das ist nur Tarnung.
    Schließlich richtete ich mich mit einem Seufzen auf. Ich warf mich jetzt seit fast zwei Stunden im Bett umher, es war bereits ein Uhr nachts. Hoffnungslos, ich würde nicht einschlafen. Warum seine Zeit mit aussichtslosen Unterfangen verschwenden. Ich konnte genauso gut … Ja, was konnte ich?
    Als ich die Vorhänge aufzog, erkannte ich die Schemen meiner Raben, die schlafend in den Ästen der Kastanie hockten. Mit den gesenkten Köpfen und den überstehenden Flügeln wirkten sie wie Scherenschnitte von Gehenkten in langen Mänteln.
    Das schwache Licht in den Gärten nahm ich erst wahr, als es plötzlich verlosch. Kurz glaubte ich, es mir nur eingebildet zu haben, doch das Flackern hatte sich längst in meinem Kopf festgesetzt

Weitere Kostenlose Bücher