Himmelsfern
Starre, riss den linken Arm hoch und drosch mit der Faust gegen die Mauer. Einmal, zweimal, dreimal. Ich presste mir die Hand vor den Mund, um keinen Laut von mir zu geben. Denn ich konnte mir nur zu gut vorstellen, wie es sich anfühlte, wenn die dünne Haut über den Fingerknöcheln nachgab und der Knochen über den Stein schabte. Ich glaubte, es trotz der Entfernung zu hören. Krrrtsch. Meine Innereien zogen sich zusammen, aber ich konnte den Blick nicht abwenden.
Am Gehwegrand parkte ein brauner UPS-Kastenwagen. Ich versteckte mich dahinter und beobachtete Marlon. Er wandte sich zum Gehen, lieà die linke Hand zur Faust geballt, fuhr sich mit der rechten durchs Haar und hakte sie dann in seine hintere Hosentasche. Auf einmal stutzte er, zog etwas aus der Tasche. Papier, mehrfach zusammengefaltet. Ich wusste sofort, was es war. Das waren keine Notizen, die er in der Hosentasche vergessen hatte, auch kein an ihn adressierter Brief. Das war die Geschichte â meine Geschichte. Ich sah ihn tief durchatmen, dann setzte er sich entschlossen in Bewegung und lieà das Papier in einen Mülleimer an der Bushaltestelle fallen.
Ich verharrte in meinem Versteck und wartete. Zählte bis hundert. Zählte von hundert zurück bis null. Ãberlegte, noch mal von vorn zu beginnen, wagte mich dann aber doch hinter dem Kastenwagen hervor.
Marlon war fort.
Ich rannte zur Bushaltestelle und schaute mich verstohlen um. Niemand da. Am Haltestellenhäuschen bewegten sich im Wind die zerfetzten blassrosafarbenen Reste eines Werbeplakats für einen Friseursalon, der im Sommer letzten Jahres geöffnet und im Herbst wieder geschlossen hatte. Ich trat näher an den Mülleimer, hielt die Luft an und fischte die Geschichte hinaus. Das Papier eng an meine Brust gepresst, flitzte ich nach Hause.
»Ein Einzelner â¦Â«
»â¦Â muss sterben«, säuselten ihm zwei der Meereswesen links und rechts ins Ohr. Luftbläschen kitzelten die narbigen Stellen, an denen ihm einst Kiemen aus dem Fleisch gebrochen waren. Brijan wusste nicht, wie lange er schon im Wasser lebte. Es mussten Jahre vergangen sein, doch immer noch dehnte sich sein Herz vor Zufriedenheit, wenn er nahe der Oberfläche mit Mantarochen zwischen verzerrten Sonnenstrahlen spielte. Er begleitete Haie bei ihrer blutrünstigen Jagd, lieà sie respektvoll die Köpfe vor ihm neigen, bevor er sie mit Sardinen belohnte, die er für sie anlockte. Wale sangen ihm ihre melancholischen Lieder. Er folgte Fischen in die Tiefe, die gigantischen Schlangen ähnelten. Ihre Länge überbot die GröÃe von sechs übereinanderstehenden Männern und sie huldigten ihm mit Seewolfkadavern, die sie ihm darbrachten. Sie waren seine Untertanen und er war ihr Herrscher.
Das Meer machte ihn lebendig. Wie konnten diese Wesen vom Sterben sprechen?
»Aber zwei«, sprach ihm das dritte Wesen mitten ins Gesicht, »können ewig sein.«
»Unsere Welt braucht Kinder â¦Â«
»â¦Â die für uns singen.«
»Singen. Singen. Singen!«
»Hol uns das Leben hinab in die Tiefe.«
Auf Geheià der Wesen ging Brijan als Mann zurück an Land, um eine Frau zu finden.
Sein erster Weg führte ihn auf den Markt, wo er nass, bleich und in Lumpen kaum Aufsehen erregen würde. Zunächst fiel es ihm schwer, der jungen Fischverkäuferin zuzulächeln, doch sie erwiderte seinen ersten Versuch sogleich und er trat mutig zu ihr. Schön war sie nicht und ihr Vater war bestimmt zu arm, um dies mit einer Mitgift auszugleichen. Das war der Grund, warum Brijan sie ausgewählt hatte. Diese Frau hatte nichts zu verlieren. Sie würde einen Mann nehmen, auch wenn er nicht reich und von blendendem Aussehen war. Wenn das Meer erst die Schuppen und das verwesende Fischblut von ihren Armen gewaschen hatte, den Staub aus ihren Haaren, dann würde sie glücklich werden. Doch während er so dastand und sie betrachtete, kam eine andere Frau und presste sich an seine Seite und sodann folgte eine zweite, die ihm eine Hand auf die Brust legte. Es waren Dienerinnen vom Hofe, wie er an den Stickereien ihrer Mantelaufschläge erkennen konnte. Brijan war verwirrt von dem offensichtlichen Werben der Weiber. Derweil er sich von ihnen wegführen lieÃ, bemerkte er noch den traurigen Blick der Fischverkäuferin. Doch als er die Finger der einen Magd an seinen Lippen spürte und die Zunge der zweiten an seinem
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