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Himmelsfern

Himmelsfern

Titel: Himmelsfern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Benkau
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und dort ein Feuer aus Gedanken entfacht. War Marlon etwa immer noch da? Zweifel verbrannten. Ich war innerhalb von Sekunden angezogen und schlich mich hinaus.
    In unserem Block gab es eine fundamentale Regel: Nach Einbruch der Dunkelheit hatte man Vorsicht walten zu lassen. Das galt für jeden, doch in erster Linie für Frauen und Jugendliche und damit in doppelter Hinsicht für mich. Ich war vorsichtig. Hoffentlich war das genug. Ich nahm nicht den direkten Weg über die Zäune und Hecken, quer durch ein halbes Dutzend Schrebergärten, obwohl es dazu hell genug gewesen wäre, denn zerfetzte Wolken reflektierten das Mondlicht. Stattdessen ging ich den Umweg an der Straße entlang. Um von niemandem gesehen zu werden, drückte ich mich so eng an die Hausfassaden, dass der Ärmel meiner Jeansjacke an den mehr oder weniger gelungenen Graffiti entlangstreifte, die unser Stadtbild prägen. Ich stieg über Scherben und weggeworfenes Papier hinweg, damit mich das Knirschen nicht verriet. Schwarze Kellerstiegen erinnerten mich an aufgerissene Mäuler, an denen ich schneller vorbeihuschte. Wer weiß schon, was in diesen dunklen Löchern lauert? Ebenso hastig verließ ich den Lichtkegel einer jeden Straßenlaterne. Ich war mehr als nur vorsichtig, ich wurde unsichtbar.
    Nachdem ich den Häuserblock umrundet hatte, bog ich in den schmalen Fußgängerweg ein, der in die Schrebergartenanlage führte. Das Tor, das mir hier den Weg versperrte, hatte ich innerhalb von fünf Sekunden überklettert. Weit entfernt jaulte eine Polizeisirene auf. Irgendwo keifte eine Frau. Hinter den Gärten lag die Stanzerei, ich hörte ihre Maschinen pumpen wie das mechanische Herz der Stadt. Pmpf, pmpf, pmpf. In meiner unmittelbaren Umgebung war alles ruhig. Ein paar kleine, bleiche Nachtfalter umschwirrten mich. Ich folgte dem steinigen Pfad und erreichte Marlons Gartenparzelle ohne Zwischenfälle.
    Stockfinster lag die Laube da, zu drei Seiten von Gestrüpp umgeben, das sie wohl irgendwann verschlingen würde. Hinter der Hütte ragte ein toter Apfelbaum auf, die kahlen Zweige wie Finger in die Luft gestreckt. Der Schatten eines Asts fiel bis vor meine Füße und bewegte sich im Gras hin und her. Um einen weiteren Schritt in Richtung Tür zu machen und anzuklopfen, musste ich all meinen Mut zusammennehmen. Ich atmete tief ein. Und stutzte. Die Luft roch ungewöhnlich. Nach frisch gemähtem Gras. Tatsächlich stand die wilde Wiese vor dem Gartenhäuschen nicht mehr so hoch wie beim letzten Mal. Ein englischer Rasen war das zwar nicht gerade, überall ragte bockig das Unkraut in die Höhe, an anderen Stellen waren ganze Grasbüschel herausgerissen und in der Erde klafften Löcher. Aber hier hatte ohne jeden Zweifel jemand versucht, den Rasen zu mähen. Marlon? Wozu? Wollte er es sich hier etwa so richtig behaglich machen? Sich einnisten in dieser Baracke mit Blick auf mein Fenster? Das sah ihm ähnlich.
    Ob es der erbärmliche Versuch des Rasenmähens war, die Zeile, die er mir – Magpie – unter die Geschichte gesetzt hatte, oder etwas vollkommen anderes, wusste ich nicht. Aber in diesem Moment verlor ich das letzte bisschen Angst. Entschlossen trat ich auf die Laube zu. Jegliche Bedrohung war schlagartig verschwunden. Ich konnte Marlon an die Polizei verraten, wenn ich wollte. Oder an Olivier. Ich klopfte an die Holztür. Farbe blätterte ab und haftete an meinen Fingerknöcheln.
    Nichts.
    Ich klopfte fester und die Tür schwang einen Spaltbreit auf.
    Dunkelheit quoll aus dem Inneren der Hütte und schien das Wort schutzlos zu wispern. Mein Bauch zog sich schmerzhaft zusammen und mir wurde klar, dass es nichts gab, was ich weniger wollte, als Marlon zu verraten. Ich stieß die Tür ein Stück weiter auf, um hineinzusehen, doch plötzlich prallte das Holz gegen einen Widerstand. Für den Bruchteil einer Sekunde war es still, dann fiel unter einem Wahnsinnsgepolter irgendetwas zu Boden. Ich schlug die Hand vor den Mund, um nicht laut aufzuschreien, und sprang erschrocken mehrere Schritte zurück. Das Scheppern und Bollern hatte man sicher bis zu unserem Haus gehört. Ich sah mich hektisch um, aber alles blieb ruhig. Auch aus der Hütte drang kein weiterer Laut. Unmöglich, dass Marlon immer noch schlief.
    Ich eilte zurück zur Tür und lugte hinein. Verdammt, zu dunkel! »Marlon? Ich bin’s, Noa.« Nur ein Flüstern,

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