Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Himmelsfern

Himmelsfern

Titel: Himmelsfern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Benkau
Vom Netzwerk:
aber es zerschnitt die Stille wie ein frisch geschliffenes Messer.
    Keine Antwort.
    Meine Finger zitterten, als ich mein Handy aus der Hosentasche holte. Der bläuliche Lichtschein des Displays taumelte durch den Raum, verlieh den Schatten in den Ecken mehr Tiefe. Nichts. Ich erkannte, was umgefallen war. Marlon hatte den Rasenmäher, ein altmodisches, mechanisches Ding, auf dessen Schneiden Rost blühte, hinter die Tür gestellt. Die Überreste eines sterbenden Ritters als einziger Schutz vor der Welt. Unweigerlich verzog sich mein Mund wie unter unerwartetem Zahnschmerz. Das Bett war nicht gemacht, aber leer. Auf dem Herd stand ein Topf, daneben gespültes Geschirr.
    Â»Hallo? Marlon?«
    Keine Antwort.
    Ich schlich über die Dielen, kontrollierte die Nasszelle und leuchtete das Dunkel unter Tisch und Bett ab. Nein, hier war niemand.
    Vielleicht war er fort. Ganz fort, dorthin gegangen, von wo er gekommen war.
    Warum nur tat der Gedanke weh?
    Dann fand ich auf der Pritsche das graue Hemd, das Marlon heute getragen hatte, außerdem Boxershorts und ein Handtuch. Ich ging in die Knie und streckte unsicher die Hand danach aus. Das Handtuch war noch feucht, er war also vor Kurzem noch hier gewesen. Halb unter das Feldbett geschoben, lagen Zeitschriften. Comics und Mangas, wie ich auf den zweiten Blick feststellte. Die Sprechblasen waren mit Post-its überklebt, auf die Marlon seine eigenen Texte geschrieben hatte. Ohne zu wissen, was im Original darunterstand, war mir klar, dass seine Interpretationen der Szenen besser waren. Einige Zeilen waren ernsthaft, nachdenklich. Ich glaubte, darin Zitate großer Literaten zu finden, die die bunthaarigen Männchen sich um die Ohren schlugen, was überraschend gut zu den übertrieben verzerrten Gesichtern mit den riesengroßen Augen passte. Andere Änderungen waren reine Satire und wirklich lustig. Beim Umblättern einer Seite fiel ein loses Blatt heraus und landete lautlos auf den Holzdielen. Ich hob es auf. Und erstarrte.
    Es waren zwei Bildchen, mit Kugelschreiber auf einen karierten Zettel gebannt, das dritte begonnen, aber nicht fertiggestellt, als wäre der Zeichner unterbrochen worden.
    Die ersten beiden zeigten … mich.
    Ich stand vor dem Rüdenfels und lehnte mich gegen den Sockel. Jedes Detail war zu erkennen, selbst die dunklen Sprenkel im meinem linken Auge und meine Sommersprossen. Jede einzelne. Von Marlon sah man nichts als Haare und seine Schultern von hinten. Auf dem ersten Bild sagte ich: »Nicht jeder ist es wert, gerettet zu werden.« Ich hatte nicht gewusst, dass ich derart arrogant die Nase hochhalten konnte. Aber mein Gesichtsausdruck war harmlos im Vergleich zu meiner Darstellung auf dem zweiten Bild. Dort verschränkte ich die Arme vor der Brust, wandte das Gesicht ab und starrte mit vorgeschobener Unterlippe bockig in den unteren Bildrand. Marlon sah dagegen genauso aus wie auf der ersten Zeichnung. Aber der Hund – dieser blöde, steinerne Hund – hatte sich verändert. Er senkte den Kopf, sah Marlon traurig an und sagte in einer zittrig umrandeten Sprechblase: »Nicht jeder ist es wert. Da hast du es.« Auf dem dritten Bild stand der Hund wieder so da, wie ich ihn kannte. Der Sockel, ich und alles andere fehlten noch. Unten am Bildrand entdeckte ich Marlon, der sich abgewandt hatte – der Bildausschnitt zeigte nur eine Ecke seines Gesichts. Die halbe Stirn, ein Auge, grob skizziert. Ein Geist, kurz bevor er sich im Nichts auflöst.
    Ich hatte plötzlich Mühe zu atmen. In der Luft war etwas, das ihr den Sauerstoff entzog, sie tranig machte. Die blöde Hütte war plötzlich erfüllt von Einsamkeit, sodass ich es hier kaum mehr aushielt, alles rasch an seinen Platz zurücklegte, meine Spuren beseitigte und nach draußen stürmte.
    Ich lief nach Hause. Gab nichts darauf, vorsichtig sein zu müssen, sondern rannte so schnell, dass meine Sohlen nur so auf den Asphalt klatschten. Aus einem Hauseingang grölte mir ein Mann Obszönitäten hinterher. Im Bushaltestellenhäuschen hockte eine obdachlose Frau, die vorhin noch nicht da gewesen war, und murmelte etwas Unverständliches, als ich an ihr vorbeilief. Irgendwo hörte ich Männer, die sich anbrüllten. Ihre Stimmen jagten durch die Straßen wie Gespenster. Bedrohlich. Ich sah nicht nach links und nicht nach rechts. Ich wollte einfach nur noch nach Hause.
    Dominic klingelte mich am nächsten Morgen

Weitere Kostenlose Bücher