Himmelsfern
tellergroÃ. Sie stand auf, fing den auf und ab gehenden Marlon mitten im Raum ab und machte Anstalten, ihn zu umarmen, lieà es dann aber doch. »Das wusste ich nicht«, flüsterte sie. »Es geht euch doch gut, oder? Warum seid ihr überhaupt so dreckig?«
»Wir mussten die Bahn nehmen«, erwiderte Marlon trocken.
»Und sind schwarzgefahren«, fügte ich hinzu, woraufhin er mich angrinste, als verbände uns ein gemeinsames Geheimnis unfassbarer Tragweite.
Marlon holte mir Kleidung zum Wechseln, zeigte mir das Bad, das an die Gemeinschaftsduschen in der Sporthalle meiner Schule erinnerte, und lieà mich allein. Ich lauschte noch einen Moment an der Tür. Das Gitarrenspiel hatte aufgehört, aber ich vernahm auch keinen Streit, nur leise Stimmen, also ging ich duschen.
Danach trat ich mit einem um die Haare geschlungenen Handtuch und in Emmas Sachen wieder ins Wohnzimmer. Corbin und Emma saÃen jeder auf einem Sofa und übertrafen sich gegenseitig darin, finster ins Leere zu starren. Nur Marlons Miene lockerte sich auf, als ich zu ihm ging. Er las den Text vor, der auf dem T-Shirt stand, das ich trug: »Hey du, runter von meinen Nerven.«
»Frag gar nicht erst â ja, du bist gemeint«, sagte Emma zu ihm und widmete ihre ganze Aufmerksamkeit dem Abknibbeln ihres Daumennagels.
Immer noch war Marlon voller Schmutz, nur Gesicht und Hände hatte er gewaschen. Er rutschte ein wenig zur Seite und ich setzte mich neben ihn. Unsere Oberschenkel berührten sich und Emmas Hose, die mir ein wenig zu weit war, bekam Flecken von seiner. Corbin wandte sich mir zu, sagte jedoch nichts. Unter seinem skeptischen Blick überlegte ich, was ich tun sollte, was von mir erwartet wurde, und schlieÃlich brach ich das Schweigen auf meine Weise.
»Hübsches Haus. Ich gratuliere zum Umzug, habe leider kein Brot und Salz dabei.«
Marlon guckte zu Boden, aber ich bildete mir ein, ein verstecktes Lächeln in seinen Mundwinkeln gesehen zu haben. Emma starrte mich an. Corbin grinste, aber dieses Grinsen sah falsch und gefährlich aus. Meine Hände begannen wieder stärker zu zittern. Wirklich aufgehört hatte das Beben nie, aber nun wurde es auffallend heftig. Ich ballte die Fäuste und steckte sie zwischen meine Oberschenkel.
»Ich habe den beiden schon gesagt«, erklärte Marlon mir, »dass ich angegriffen wurde und sehr schnell entscheiden musste, ob ich dich mitnehme oder zurücklasse. Inzwischen bin ich allerdings der Meinung, dass ich auch nach stundenlanger Ãberlegung nicht anders gehandelt hätte.« Er sah eindringlich in die Richtung seines Bruders. »Ich vertraue Noa.«
»Wir hätten gerne die Wahl gehabt, ob wir ihr auch vertrauen«, warf Emma ein, ohne aufzusehen, doch Marlon unterbrach sie harsch.
»Die Männer waren bewaffnet. Einer hat auf mich geschossen. Schau du mal in den Lauf einer Knarre und triff eine Entscheidung, ohne irgendwem dabei auf die FüÃe zu treten.«
Bewaffnet. Lauf einer Knarre. Auf ihn geschossen ⦠Ich hatte die Pistole fast vergessen.
Das Ganze nahm AusmaÃe an, die mich wieder an den Rand der Schreckensstarre trieben. Dass ich schluchzte, merkte ich erst, als Marlon einen Arm um meine Schultern legte. Corbin stand auf und verlieà wortlos den Raum.
»Warum geht ihr nicht zur Polizei?«, fragte ich mit torkelnder Stimme. »Die können doch nicht einfach auf euch schieÃen.«
»Die Huntsmen Federation hat Kontakte bis in die Spitzen der Politik â beinahe in jedem Land«, erklärte Emma kühl. »Es hat durchaus Versuche gegeben, Mitglieder anzuzeigen, aber die Verfahren wurden abgewürgt und die wenigen Kläger fanden sich auffällig häufig als tragische Unfallopfer in der Pathologie wieder. Ebenso wie diejenigen von uns, die an die Ãffentlichkeit gehen wollten.«
»Das klingt nach den Spinnereien von weltfremden Verschwörungstheoretikern, ich weië, warf Marlon rasch ein. »Aber die Erfahrung zeigt uns deutlich, dass da etwas dran ist.«
Mein Zittern wurde immer stärker, inzwischen zitterten selbst meine Gedanken. Es musste doch Gründe geben, warum sogar die Politik diese Jagd unterstützte. Es wurde doch in Deutschland niemand grundlos so verfolgt â das war vollkommen gegen unsere Verfassung. Das durfte nicht sein. Ich konnte meine Zweifel, meine Fragen aber nicht in Worte fassen.
»Warum?«, fragte ich
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