Himmelsfern
überlieà ich erneut alles Marlon. Diesmal vertrauensvoll, weil ich mich sicher fühlte, solange er meine Hand hielt.
Ich kannte das Haus, in dem Corbin und Emma inzwischen wohnten, und vermutlich auch Marlon, wenn er nicht gerade in einer Laube ohne Türschloss hauste, um in meiner Nähe zu sein. Mit Dom war ich schon einmal hier gewesen, weil wir für die Schule Fotos von imposanten Gebäuden machen wollten. Dieses Haus war wahrlich imposant. Der Backsteinklotz lag in einem Industriegebiet, das seine besseren Zeiten im letzten Jahrtausend erlebt hatte. Es handelte sich um ein ehemaliges Bürogebäude, das seit einigen Jahren leer stand und sich seitdem fest in der Hand von wildem rotem Wein befand, der sich an allen vier Wänden bis in die dritte Etage emporarbeitete und durch die kaputten Fenster sogar ins Innere drang, sodass es aussah, als hätten die Pflanzen die Scheiben eingedrückt. An den Gemäuern der oberen beiden Stockwerke hatten sich Sprayer ausgelassen. Die Fenster stellten dabei Augen, eingeschlagene Zähne oder intime Körperöffnungen diverser Figuren dar.
»Siehst du den Drachen mit dem gähnenden Maul?«, fragte Marlon. »In seinen Eingeweiden liegt mein Zimmer.«
Ich betrachtete die Kunstwerke voller Ehrfurcht. »Habt ihr das etwa gemacht?«
Marlon lachte. »Schön wärâs. Wir wohnen erst seit ein paar Tagen hier, weil wir aus dem anderen Haus rausmussten. Wir haben es aufgrund der Lage gewählt und wegen der coolen Fassade. WeiÃt du noch, was du über diese Stadt gesagt hast? Du meintest, sie sei vergessen. Das stimmt. Diese Ecke hier ist sogar so vergessen, dass wir Strom und Wasser haben. Sie haben wohl vergessen, es abzustellen.«
Das Erste, was ich innen bewusst wahrnahm, waren die Schlösser an den Wohnungstüren.
»Man kann abschlieÃen«, murmelte ich erleichtert.
»Ja, wir haben neue Schlösser eingebaut. Ist dir das wichtig?«
Ich nickte und sah ihn dabei so intensiv an, dass er unter den Schmutzstreifen auf seinen Wangen errötete und den Kopf senkte.
Er öffnete die Tür und gedämpfte Gitarrenmusik empfing uns. Ich kannte den Song. Hey There Delilah von Plain White Tâs. Marlon führte mich in eine Art Wohnzimmer. Nackte Backsteinwände und nichts als Estrich auf dem Boden, dazu drei vollkommen identische, nagelneu wirkende IKEA-Sofas, ein Tisch mit Klappstühlen, ein riesiger Flachbildfernseher, der auf dem Boden stand, und eine Wii-Konsole. Auf einem der Sofas saà Emma, das Haar wie bei unserer ersten Begegnung streng zurückgekämmt. Sie verfolgte eine Kriegsberichterstattung auf CNN und naschte weiÃe Quader, die aussahen wie Radiergummis. Als sie uns in der Tür stehen sah, kaute sie zuerst zweimal ungerührt weiter, dann einmal sehr langsam. SchlieÃlich bewegte sich kein Muskel mehr in ihrem Gesicht.
Marlon hob den Finger an die Lippen, schob mich zu ihr aufs Sofa und flüsterte: »Es ging nicht anders.«
Als würde das alles erklären, schob Emma sich einen weiteren Radiergummi in den Mund, kaute genüsslich, schluckte und zuckte dann mit den Schultern. »Corbin nimmt dich auseinander. Und ich röste deine Einzelteile, wenn wir wegen ihr wieder Stress bekommen. Kentucky Fried Marlon, das ist ein Versprechen, mein Freund, keine Drohung.« Sie wandte sich mir zu, hielt mir die Tüte mit den Radiergummis unter die Nase. »Ist nichts gegen dich persönlich. Magst du französisches Nugat?«
Danke, mir war schon übel. Ich schüttelte den Kopf, weil ich kein Wort rausbekam.
»Ist Corbin okay?«, fragte Marlon.
Emma schob sich eine weitere SüÃigkeit in den Mund und zuckte mit den Schultern.
»Verdammt.« Marlon fuhr sich durchs Haar und betrachtete erst den Dreck in seinen Handflächen und dann mein Gesicht. »Ich brauche deine Hilfe, Em.«
»Sieht ganz so aus. Ich hoffe, du hast eine gute Erklärung.«
Ich bezweifelte das und meinte: »Hoffe bitte für mich mit.« Die beiden gingen nicht darauf ein.
»Nimm dir aus meinem Zimmer Handtücher und frische Sachen für sie«, sagte Emma an Marlon gewandt. »Ich versuche mal, deinen Bruder sanft darauf vorzubereiten, dass du mal wieder unfassbaren Mist gebaut hast.«
Marlon lachte bitter. »Was hätte ich machen sollen? Oliviers Leute waren uns auf den Fersen.«
Emma presste die Lippen zusammen, ihre Augen wurden dafür
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