Himmelsfern
mit einem müden »Ach, haut doch alle ab!« und mir wurde schwindelig.
»Du hattesch übrigens rescht«, nuschelte ich etwas später. Ich kicherte, weil meine Stimme klang, als würde ich eine Haselnuss auf der Zunge balancieren. »Steine singen wirklich. Ja, escht. Sie singen. Isch habsch gehört.«
Drei Augenpaare nahmen mich ins Visier, als hätte ich soeben ein Ei gelegt.
Ich grinste breit, hörte, wie Marlon etwas von »Spâ¦spâ¦später« stotterte, und brach in Gelächter aus.
»Gib ihr noch einen Schluck, dann pennt sie«, riet Corbin.
»Wehe, sie kotzt!«, erwiderte Emma.
Marlon reagierte mit einem sehr deutlichen »Verpisst euch!« und ich fand das alles irre komisch.
Ich lag auf Marlons Bett und starrte an die Decke. Der Raum schwankte und drehte sich immer wieder ein paar Grad im Kreis, um dann zurückzutaumeln und von vorne zu beginnen.
Marlon hatte gesagt, sein Zimmer liege in den Eingeweiden des an die Fassade gesprayten Drachen, und er hatte nicht übertrieben. An die Fensterseite hatte der Künstler den Schlund des Tieres gemalt, nicht einmal das Rachenzäpfchen fehlte. Erstaunlich, wie lange man ein ekliges Rachenzäpfchen anglotzen kann, ohne sich zu übergeben. An der linken Wand prangten Leber, Lungen, Nieren und Milz. Gegenüberliegend fanden sich Magen und Darm, durch die dünne Schleimhaut waren Teile einer Ritterrüstung zu erkennen, die dem Drachen offenbar schwer im Bauch lagen. An einer Stelle durchbohrte ein Schwert den Dickdarm. Alles Mögliche an Flüssigkeiten troff aus der Wunde. Der Whisky in meinem leeren Magen rebellierte, sobald ich zu genau auf diese Details achtete, aber ich war von der Notwendigkeit überzeugt, Marlon nicht ins Bett zu kotzen. Darum schluckte ich mühsam an viel zu viel Spucke und konzentrierte mich auf die Darstellung an der Decke. Dort hatte der Künstler das Herz der Bestie hinterlassen. Vier Herzkammern sowie Arterien und Venen, die sich wie Schlangen darumwanden. Ich glaubte, es pochen zu sehen. Mit dem Bild vor Augen und einem Kichern im Ohr, das von mir selbst stammen musste, schlief ich wieder ein.
Erstaunlicherweise waren die Dracheninnereien noch da, als ich die Augen aufschlug. Seltsam, ich hatte angenommen, sie hätten zu meinen obskuren Träumen gehört, denn auch die waren voller Blut, Körperteile und Eingeweide gewesen. Wachwerden hatte mich selten so erleichtert.
Marlon summte eines dieser irischen oder schottischen Lieder, die man auf jedem Mittelaltermarkt zu hören bekommt. Er saà neben einem Umzugskarton, den er als Unterlage verwendete, und schrieb. Als ich mich aufrichtete, lieà er das Papier in den Karton gleiten und sah mich mit einer Mischung aus Sorge und Belustigung an. »Hey. Geht es dir besser?«
Ich befühlte vorsichtshalber meinen Kopf. Er schien mir etwas voller als sonst. So, als würde mir Watte aus den Ohren quellen. AuÃerdem hatte ich schrecklichen Hunger. Aber ich war okay. »Mir gehtâs gut. Glaube ich.«
»Prima.«
»Primstens.« Hoppla. Als Dom und ich Kinder gewesen waren, hatten wir uns alberne Superlative ausgedacht. Dass mir ein solcher rausgerutscht war, zeigte, dass mein Hirn augenscheinlich doch Schaden genommen hatte. Meine Ohren fühlten sich heià an und Marlons Lächeln trieb diese Hitze bis über meine Wangen.
»Primstens?«, wiederholte er spöttisch, erhob sich elegant aus dem Schneidersitz und trat zu mir. »Das ist süÃ.«
Süà synonymisiert albern, hätte ich gerne erwidert, aber meine Zunge war so träge, dass sie sich angesichts dieses schwierigen Wortes verknotet hätte.
Unter meinem Blick wurde Marlon wieder ernst. Er setzte sich auf die Bettkante und sah auf seine nackten FüÃe. Die Jeans reichte ihm bis zu den Waden; mir fiel auf, dass er sehr dünne Beine hatte und viel zu groÃe FüÃe. Aus seinem Haar tropfte Wasser in das T-Shirt â er hatte geduscht, während ich geschlafen hatte. Ich roch Seife und Deo und in mir schwoll die Frage an, ob ich, wenn ich näher an ihn heranrutschte, seinen eigenen Geruch darunter finden würde. Ob er überhaupt einen eigenen Geruch hatte? Die durchs Fenster scheinende Nachmittagssonne vereinigte sich mit den Rottönen an den Wänden zu einem derart schmeichelnden Licht, dass Marlon darin unwirklich weich erschien. Verwaschen. Unantastbar. Als würde er sich in
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