Himmelsfern
ich zunächst angenommen, hier runterzugehen wäre das Schlimmste, so belehrte mich Marlon eines Besseren. Er sah sich kurz um, sprang beherzt zwischen die Schienen und hielt mir die Hand hin.
»Los, wir laufen eine Station! Wir müssen weg, falls sie uns hier unten suchen.«
Ich musste es tun und tat es wahrhaftig. Sie würden ihn umbringen, wenn ich es nicht tat.
Die Noa-Mumie kletterte zu Marlon auf die Gleise. Wir rannten gemeinsam in den Tunnel und folgten den schmalen Pfaden, die für Wartungsarbeiten und Notsituationen vorgesehen waren. Schnurstracks tiefer ins Dunkel. Wo kein Weg war, rannten wir über die Gleise. Wortlos, trotz des aufgewirbelten Staubes wagte keiner von uns auch nur zu husten. Marlon blieb alle hundert Meter stehen und horchte.
Und dann bekamen wir wirklich ein Problem, denn eine Bahn rollte heran. Wir hörten sie, wussten, dass wir einen sicheren Ort finden mussten. Es gab keinen. Da tasteten auch schon die Lichter nach uns. Sie wurden so schnell gröÃer! Marlon riss mich zur Seite. Wir hockten uns eng aneinandergepresst in eine Nische im Tunnel, mein Gesicht an seiner Brust und seine Hände über meinem freien Ohr. Der Zug brauste einen knappen Meter von uns entfernt vorbei, die Lautstärke ging mir durch Mark und Knochen, trotzdem hörte ich Marlons Herz schlagen. Laut und deutlich. Voller Furcht und Lebendigkeit. Für einen winzigen Augenblick rief mich ebendies zur Vernunft und ich fragte mich, was um alles in der Welt wir hier eigentlich taten.
Endlich war die Bahn vorbei. Marlon sprang auf, hastete weiter und ich lief wie ein Aufziehvogel hinter ihm her. Ob uns der Fahrer gesehen hatte? Scheinbar nicht, ansonsten wäre nun sicher die Hölle hier unten los.
»Zumindest verfolgen sie uns nicht«, rief er mir zu, als wir an der nächsten Haltestelle unter den fassungslosen Blicken einiger Leute, die dort auf ihre U-Bahn warteten, wieder ins Licht traten. Wäre ich nicht paralysiert gewesen vor Angst, hätte ich gelacht. Marlons Gesicht war kohlrabenschwarz, meines vermutlich ebenso, und die Leute starrten uns an, als hätte sich soeben die Erde geteilt und uns ausgespuckt.
Marlon grinste entschuldigend in die Runde und klopfte sich die Hose ab. »Mein lieber Scholli!«, rief er, sodass es alle hören konnten. »Mit Schwarzfahrern sind die hier echt nicht zimperlich.«
Unter Gemurmel und an einigen geschüttelten Köpfen vorbei liefen wir die Treppe hoch ins Freie. Der Regen malte Streifen in Marlons schmutziges Gesicht und troff grau aus meinem Haar. Ich hätte eine Ewigkeit auf der StraÃe stehen und dabei zusehen können, wie er nach und nach den Dreck von mir abwusch, aber Marlon trieb mich erneut an.
Wir überquerten die StraÃe und tauchten auf der anderen Seite wieder in den Untergrund ein. Diesmal stiegen wir in die U-Bahn. Ich stolperte, geriet mit dem Fuà fast in die Lücke zwischen Gleis und Waggon und stellte verwirrt fest, dass sich nicht einmal mein Herzschlag beschleunigt hatte. War ich bis jetzt zumindest noch Beobachterin dieser absurden Szenerie gewesen, schien plötzlich das Bild vor meinen Augen zu flackern. Ich bekam noch mit, wie Marlon mich auf eine Bank schob, seinen Arm um meine Schultern legte und in seinem leisen Singsang zu mir sprach. Sein Gesicht sah ich wie in Scherben liegend. Es dröhnte um mich herum. Da war ein sexistischer Spruch auf die Sitzbank geschmiert. Eine alte Dame, die Marlon etwas fragte. Viele Bruchstücke. Wirklich wieder mit mir verankert war ich erst, als wir erneut drauÃen im Regen standen und ich urplötzlich vor Kälte zu zittern begann. Marlon redete. Er redete und redete. Ich brauchte eine Weile, bis ich ihn verstand. Er sagte, ich solle jetzt bloà nicht schlappmachen.
»Warum sollte ich schlappmachen?«
Er atmete tief ein und stieà die Luft ganz langsam wieder aus. »Himmel, danke! Du sprichst wieder mit mir.«
Ich ignorierte seine Antwort, sie verwirrte mich. »Wo gehen wir hin?«
»Zu Emma und Corbin. Erst einmal. Dann sehen wir weiter. Du musst aus den nassen Sachen raus, sonst holst du dir noch den Tod. Ich glaube, du hast einen Schock oder so etwas, du warst vollkommen neben dir. Da hilft nur Kaffee, ehrlich. Und ich ⦠ich muss nachdenken.«
Ich verbot mir das Grübeln, ob ich zu Emma und Corbin wollte, beschloss, dass ich für diese Entscheidung noch nicht klar genug denken konnte. Also
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