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Himmelsfern

Himmelsfern

Titel: Himmelsfern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Benkau
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Lippen zusammen. Natürlich, der Herr hatte selbstredend ein Recht auf seine Privatsphäre. Spätestens jetzt bekam der Glanz, der ihn in meinen Augen umgab, gravierende Flecken. Das Absurde war, dass das Marlon für mich noch wertvoller zu machen schien. So als würden meine Gefühle zu ihm erst Bestand haben, wenn ich seine Fehler kannte – Fehler wie dünne Beine, zu große Füße und die Unfähigkeit, über Verstorbene zu sprechen. Fehler, die ihm die Perfektion nahmen und ihn für mich erreichbar machten. Ich gierte danach, denn jede seiner Unzulänglichkeiten, die ich mochte, statt sie abzulehnen, ließ mich verstehen, was ihm an mir gefiel.
    Â»Ich wünschte, ich müsste dich überhaupt nichts fragen«, überlegte ich laut. »Es würde alles einfacher machen, wenn du mir endlich erzählen würdest, wer du bist. Dann müsste ich dir die Einzelheiten nicht in Fetzen gewaltsam aus der Nase ziehen.«
    Â»Du hast recht.« Seine Brust hob sich unter einem lautlosen Seufzer. Er wies auf die Pizzareste. »Bist du fertig? Ich schlage vor, dass wir uns auf den Weg machen.«
    Das gab mir den Rest. Ich wollte Wahrheiten – er wollte mich nach Hause schicken. Ich wollte reden – er wollte schweigen. Es war einfach, Marlons Fehler zu mögen, solange diese im Rahmen blieben, aber nun war das Maß voll.
    Ich stand auf, schob den Stuhl behutsam über den knarzenden Holzboden an den Tisch, obwohl ich ihn lieber umgeworfen hätte. »Mach dir keine Mühe, ich finde alleine heim«, sagte ich leise, weil ich zum Schreien keine Kraft mehr hatte. Diese Hinhaltetaktik machte mich fertig.
    Â»Ich schreibe dir den letzten Teil der Geschichte auf«, erwiderte Marlon, als ich schon halb aus dem Wohnzimmer war. »Heute noch. Du bekommst alles noch heute.«
    Ich drehte mich nicht um, sondern starrte auf meine dreckverkrusteten Schuhe, die im Korridor lagen. »Wieso schreibst du mir diese Geschichte überhaupt auf? Hältst du dich für den neuen Shakespeare oder willst du mir erzählen, du wärst der kleine Bruder von Arielle und würdest ins Wasser gehen?« Ich schnalzte verächtlich mit der Zunge.
    Â»Sei nicht albern«, gab er lahm zurück.
    Â»Warum sagst du mir nicht einfach die Wahrheit?«
    Â»Du musst es erkennen, nicht einfach nur hören. Was man sich selbst erschließt, bewegt sich im Rahmen der eigenen Vorstellungskraft. Man hält es für möglich. Wenn ich es dir sage, würdest du es mir nicht glauben.«
    Meine Kopfhaut prickelte, vielleicht war ich immer noch benebelt vom Whisky. Ich legte meine Hand Halt suchend an den Türrahmen. »Probier es doch einfach. Vielleicht glaube ich dir. Lass es darauf ankommen.« Vertrau mir, hätte ich gerne gesagt, aber womöglich war das zu viel verlangt. »Was hast du zu verlieren?«
    Er folgte mir lautlos auf nackten Sohlen, bis er unmittelbar hinter mir stand. »Dich. Ich habe nur eine einzige Chance.«
    Ich schluckte schwer an einem riesigen Kloß in meinem Hals. »Dann verspielst du sie gerade. Ich brauche etwas Ehrlichkeit.«
    Sein Atem streifte meinen Hinterkopf, ich lehnte mich unweigerlich ein Stück zurück, bis meine Schulterblätter seine Brust berührten.
    Â»Ist es etwas Persönliches oder traust du generell niemandem?«, flüsterte ich und neigte langsam den Kopf.
    Â»Nur dir nicht.« Sein Atem war an meinem Ohr, an meinem Hals, an meiner Wange. »Weil es mir bei jedem anderen egal ist. Ist das ehrlich genug?« Atem auf meinen Lippen, der nicht mein eigener war, sich aber anfühlte, als wäre er ebenso lebensnotwendig für mich.
    Â»Magpie? Soll ich mal richtig ehrlich sein? Ich möchte dich küssen.«
    Mir blieb unerträglich viel Zeit, ehe er es tat. Zeit, um zu lächeln; Zeit zum Zweifeln; Zeit, um die Zeit zu verfluchen, weil sie mir gemeine Streiche spielte. Auch Zeit, um zu befürchten, dass ich mich doch noch übergeben musste, da in meinen Innereien ein Tornado wütete.
    Dann trafen seine Lippen auf meine. Ich öffnete den Mund, als hätte ich eine Ewigkeit auf diesen Kuss gewartet, und schmeckte Marlon so, wie er wirklich war. Ehrlich. Ich hatte eine Ewigkeit gewartet. Seine Hände umfingen zärtlich mein Gesicht und seine Klauen – wo auch immer er die versteckt haben mochte – packten um mein Herz, bereit, es zu zerquetschen, wenn ich einen Fehler

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