Himmelskinder
und sich nicht eine Kugel in den Kopf zu jagen. Er brauchte das laute satte Leben von vielen Menschen und dem, was sie ständig produzierten, selbst die hässlichen kleinen Intrigen.
Er hatte versucht, sich um diese Reise zu drücken, aber Alvermann hatte sich nicht erweichen lassen.
»Mach dir selber ein Bild da oben, rede mit den Leuten, und nimm dir so viel Zeit wie nötig. Fang mit Aldenburg an, und sieh dich auch in Breckede um. Wir kommen über Bartholdy nicht weiter. Der hält still. Das kennen wir doch. Ratten überleben, weil sie einen gut entwickelten Instinkt haben. Die Überwachung kriegen wir auch ohne dich hin. Und ich gehe davon aus, dass du nicht trinkst.«
Deshalb saß er jetzt im Zug und glotzte unausgeschlafen aus dem Fenster. Bald zog eine Regenfront vorüber, feiner Regen pladderte gegen die Scheibe.
Während der Fahrt war er immer wieder eingeschlafen und aufgeschreckt, wenn der Zug gehalten hatte. Bilder, die König ihnen gezeigt hatte, geisterten durch seinen Kopf. Der winzige Junge mit dem aufgerissenen Mund, das Himmelskind und all die anderen Jungen und Mädchen ohne Namen. Und ihre Augen, schon erloschen, bevor das Abenteuer Leben für sie beginnen konnte.
Es war noch dämmerig, als er auf den Bahnhofsvorplatz trat. Der Regen war stärker geworden. Er fröstelte und fühlte sich verschwitzt und übel riechend nach der endlosen Zugfahrt durch die Nacht.
Das ist also Aldenburg, die Perle des Nordens .
Er winkte einem Kombi, an dessen Seite in schwarzen, großen Buchstaben das Wort Taxi stand. Der Wagen kam quietschend vor ihm zu stehen. Als Masur einstieg, nannte er die Adresse und nahm im selben Moment einen fragwürdigen Geruch wahr. Er wollte den Fahrer danach fragen, als er auf dem Vordersitz den Übeltäter ausmachte, eine geöffnete Plastikdose. Der Fahrer schien seinen Blick bemerkt zu haben. Er lachte gutmütig, hob die Dose hoch und bot Masur vom Inhalt an:
»Wurrste, lecker, für lange Nacht mit Arbeit.«
Masur behauptete, im Zug gegessen zu haben, und lehnte sich in den Sitz zurück.
Der Wagen hielt nach knappen fünfzehn Minuten. Der Fahrer holte sich gerade das letzte Stück Wurst, das er mit großem Vergnügen verdrückte.
Junge, Junge, räsonierte Masur, bei dem, was die hier oben essen, kann das ganz schnell ein schlimmes Ende nehmen.
Er verkniff sich eine Warnung, bezahlte und stieg aus. Er eilte durch den Regen und betrat die Pension.
Das erste Licht des Tages sickerte grau durch das Fenster seines Zimmers. Es kam kein Licht, als er den Schalter betätigte. Aber die kleine Lampe am Tisch funktionierte immerhin. Er legte die Jacke ab und warf sich erschöpft auf den Stuhl am Bett. Eine Weile verharrte er regungslos und starrte vor sich hin. Schatten krochen aus den Winkeln des Raumes. Masur raffte sich auf. Ein Blick in den kleinen Kühlschrank genügte, um zu wissen, dass der Abend schwer werden würde. Er duschte und kroch zwischen die Laken. Den Wecker stellte er auf zehn Uhr, um das Frühstück nicht zu verpassen.
Natürlich schmeckte nichts, nicht hier in diesem Kaff, weit weg von Karlsbach, wo die Kollegen gerade über die neuesten Entwicklungen diskutierten, während er hier vor sich hin dümpelte. Der Kaffee war bitter, und das Frühstücksbuffet schien für die Ewigkeit gedacht: Butter, Käse, Wurst, Marmelade, alles eingeschweißt für den Fall, dass das Zeugs auch nächstes Jahr noch schmecken sollte.
Ein guter Anfang. Der Tag wird sicher ähnlich verlaufen. Ich befinde mich in jeder Hinsicht am Arsch der Welt, befand Masur. Erstaunlich, wie viele von den Plastiktöpfchen er dann doch knackte, um sich mit dem Inhalt zu vergnügen.
Gegen elf Uhr machte er sich auf den Weg.
Der Mann an der Rezeption zeigte sich behilflich.
»Wollen Sie zur Buchenhecke oder zur Buchenecker Gasse?«
»Hm, nein, zur Buchenhecke. Wie weit ist es bis dahin?«
»Richtung Innenstadt, zwanzig Minuten, länger nicht.«
Er beschrieb ihm den Weg, und nach zwei »links« und zwei »rechts« winkte Masur ab.
»Um ehrlich zu sein, ich leide an etwas, was man gemeinhin einen lausigen Orientierungssinn nennt.«
Wenig später machte er sich zu Fuß auf den Weg, in der Hand ein Stück Papier mit der Wegbeschreibung, die der freundliche Rezeptionist im Nu aufgezeichnet hatte. Die düsteren Wolken hatten sich verzogen, und die Sonne zeigte sich hin und wieder. Masur konnte problemlos der Zeichnung folgen und näherte sich dem Zentrum. Er wunderte sich schon lange nicht mehr
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