Himmelskrieg: Roman (German Edition)
technischen Zauberkunststück mitgewirkt, das irgendwelche Aliens ausgeknobelt hatten! Und trotzdem erinnerte sie sich an eine Auseinandersetzung mit ihrer Mutter! Einen Augenblick lang wünschte sich Valya, sie selbst hätte eine Tochter – nur um zu wissen, dass eine ihrer mütterlichen Ermahnungen die Zeit, den Raum und sogar den Tod überdauern würde!
»Ich denke, wenn deine Mutter jetzt hier wäre, würde sie dir den Gebrauch eines Lippenstifts erlauben.« Valya wusste, dass sie gerade ein Risiko einging, aber sie fand, es sei an der Zeit, das Thema anzuschneiden. »Außerdem warst du ungefähr zwei Jahre lang tot, nicht wahr?«
»Ich bin mir nicht sicher. Onkel Lucas sagte es mir.«
»Wann bist du gestorben?«
Jetzt sah das Mädchen bekümmert und traurig aus, und Valya spürte, dass sie einen Fehler gemacht hatte. »Ende Februar. Und vor Weihnachten kam ich ins Krankenhaus.«
»In welchem Jahr?«
»Es war Ende 2017. Anfang 2018.«
»Und wie alt warst du zu der Zeit?«
»Neun.«
»Seitdem sind fast zwei Jahre vergangen, Camilla. Nach meinen Berechnungen wirst du demnächst elf. Du darfst den Lippenstift also ruhig benutzen. Aber vorher möchte ich ihn ausprobieren.« Valya schlug einen lockeren Tonfall an, aber sie war keineswegs davon überzeugt, dass diese Chanel-Kopie ein richtiger Lippenstift war.
Sie nahm die Kappe ab und schraubte ihn in die richtige Stellung. Dabei sah sie, dass er in genau demselben Maß abgenutzt war wie das Original. Aussehen und Geruch waren ebenfalls gleich. Seltsam, hier diesen Duft nach Wachs zu erschnuppern.
Sie trug ihn auf und bewegte die Lippen. »Perfekt«, verkündete sie und reichte den Lippenstift an Camilla weiter, die vor Vergnügen quiekte.
Valya kniete sich hin und inspizierte den eigenartigen Kreis im Boden, der immer noch geriffelt war, wie Schnee in der Arktis. Der originale Lippenstift ruhte in einer schüsselförmigen Vertiefung von ungefähr drei Zentimetern Durchmesser. Sie fragte sich, ob sie es hier weniger mit einer Duplizierung, sondern viel mehr mit einer Übertragung zu tun hatte, nahm den Lippenstift, öffnete und prüfte ihn.
Es war immer noch derselbe.
Sie betrachtete den magischen Teller und ging in Gedanken den Inhalt ihrer Tasche durch. »Ich überlege gerade, ob dieses Ding hier mein Handy duplizieren könnte«, sagte sie.
Sie unterbrach sich.
Camilla starrte sie nur an. Den Lippenstift hielt sie in der Hand, schickte sich jedoch nicht an, ihn zu benutzen. »Was meinst du?«, fragte sie.
Das Mädchen sagte etwas in einer Sprache, die nicht Portugiesisch war. Valya erkannte sie: Deutsch. »Worüber willst du meine Meinung hören?«
Camillas Augen glänzten, doch der Blick ging ins Leere … wie bei achtzig Prozent aller Teenager, denen Valya in letzter Zeit begegnet war, alle vernetzt mit Tablets, Ohrstöpseln und sogar experimentellen, direkt-neuralen Links.
Sie war abgelenkt und außerstande zu reagieren.
Wer lenkt sie ab, fragte sich Valya. Oder was?
»Lass uns zu den anderen zurückgehen«, schlug sie vor.
Ohne ein Wort zu sagen, stand Camilla vom Boden auf, wo sie gehockt hatte, und setzte sich in Marsch, ohne ein einziges Mal hinter sich oder zur Seite zu blicken.
Am liebsten wäre Valya losgerannt.
14
Ankunftstag: MAKALI
»Makali, Mädchen, wann haben Sie das letzte Mal etwas gegessen?«
Beim Klang von Vikram Nayars Stimme zuckte Makali zusammen, als hätte er sie geschlagen. Sie saß da, mit dem Rücken gegen die Wand des Tempels gelehnt – die sie in Gedanken als Teil einer fremdartigen Struktur auf einer fremdartigen Welt bezeichnete – und schrieb in ihr Notizbuch. Ein paar Meter von ihr entfernt hockte Nayar im Schneidersitz auf dem Boden. Niemand sonst befand sich in ihrer Nähe. In dem Keanu-Habitat herrschte eine Totenstille, als wären sie und Nayar die einzigen Menschen in einem Umkreis von vielen Kilometern gewesen.
»Keine Ahnung«, antwortete sie. Während ihrer wochenlangen Zusammenarbeit mit dem Leiter der BRAHMA -Mission hatte sie seine väterliche Seite schätzen gelernt. Sie hätte sie noch ein wenig mehr geschätzt, wenn sie geglaubt hätte, seine Aufmerksamkeiten ihr gegenüber entsprängen ausschließ lich väterlichen Motiven. »Seit der Mann erschossen wurde, habe ich nichts mehr zu mir genommen.«
Nayar gab einen Grunzer von sich, als er an den Vorfall erinnert wurde. Obwohl er für seine schlechte Laune gefürchtet war – Makali selbst hatte die volle Wucht seines Zorns noch nicht
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