Himmelskrieg: Roman (German Edition)
konnte. Wie eine Besessene hatte sie die Wände skizziert und Spekulationen angestellt, aus welchem Material sie bestehen mochten, als Nayar sich zu ihr gesellte.
Zu ihrem Erstaunen vergegenwärtigte sie sich, dass sie diese fremdartige Struktur nicht nur studierte, sondern auch damit interagierte … sie behandelte sie wie jedes andere x-beliebige Gebäude, in dem man herumwandern konnte. Makali war nicht die Einzige, die das tat. Dutzende von anderen Menschen lungerten im Erdgeschoss des Tempels herum. Manche hockten auf dem Boden, einige lagen da und schliefen, ein paar diskutierten miteinander, ein älterer Inder starrte unverwandt auf einen imaginären Punkt in der Ferne.
Und mehrere Leute verschlangen Früchte und andere halb wegs genießbar aussehende Sachen.
Nayar ging zu einem jungen Burschen, der anscheinend das Verteilen der Nahrungsmittel übernommen hatte. »Xavier«, sagte er. »Makali hier hat noch nicht gegessen.«
Xavier drehte sich zu ihr um … und bedachte sie mit einem Blick, den sie seit vielen Tagen nicht mehr gesehen und in dieser Welt auch nicht erwartet hatte. Ihrer ethnischen Herkunft nach war Makali eine Hindu, aber das war auch das Einzige, was sie mit dem Subkontinent verband. Sie war in Australien aufgewachsen, hatte gesurft und Kampfsport betrieben und entsprach in keinerlei Weise dem Stereotyp einer Inderin mit einem Bindi auf der Stirn. Sie trug ein weites Shirt und Khakihosen, die allerdings nicht ihre Figur verbargen, die eine ihrer Freundinnen einmal als »schlank, aber ungemein weiblich« beschrieben hatte.
Hier, auf einer fremdartigen Welt, zwei Tage nach einer ver rückten Reise in einem fremdartigen, blasenförmigen Fluggerät, reagierte Xavier auf Makali, wie ein junger Mann für gewöhnlich auf eine hübsche junge Frau reagiert. Bis zu diesem Moment hatte sie gar nicht gewusst, dass sie diese Bestätigung brauchte, und auf der Erde hätte sie diesen Beweis für ihre Attraktivität vielleicht wirklich nicht nötig gehabt, denn dort war es ihr ziemlich gleichgültig gewesen, wie sie auf Männer wirkte.
Aber jetzt gefiel es ihr, wie dieser Xavier sie anglotzte.
Nicht, dass ihr das zu einer guten Mahlzeit verholfen hätte. »Sorry, aber es ist nichts mehr da.« Makali versuchte, den Akzent des jungen Mannes einzuordnen. Sie war in Australien groß geworden, aber da sie in den Vereinigten Staaten, in Eng land und in Indien gelebt hatte, war sie für die unterschiedlichen Akzente sensibilisiert. Hier entdeckte sie eindeutig eine Spur von Cajun, unterlegt mit noch etwas anderem.
Nayar regte sich auf. »Nichts mehr da! Wie konnten Sie das zulassen? Haben Sie denn keinen Überblick über die Verteilung der Nahrungsmittel? Haben alle anderen denn was abbekommen? Gibt es so was wie eine Kontrolle?«
Einer von Nayars indischen Ingenieuren hätte unter diesen Beschimpfungen den Kopf eingezogen, aber dieser amerikanische Teenager blickte nur noch verdrießlicher drein und schaltete auf stur.
»Schon gut«, sagte sie zu Nayar und legte ihm beschwichti gend eine Hand auf den Arm, ein Trick, der immer wirkte. »An den Bäumen wachsen doch Früchte«, wandte sie sich an Xavier.
Der Bursche deutete ins Innere des Habitats. »Ich werde mir selbst welche pflücken.«
»Das dulde ich nicht«, sagte Nayar. »Es könnte gefährlich sein.«
»Das bezweifle ich«, widersprach sie. »Bis jetzt haben wir hier noch nichts gefunden, das uns körperlichen Schaden zugefügt hätte. Dieses Habitat wurde offensichtlich für Menschen konstruiert.«
»Bitte beweisen Sie Ihre Theorie nicht durch einen Feldversuch.«
»Sie werden mich doch wohl nicht mit Gewalt daran hindern, indem Sie mich zu Boden ringen, oder?«
Selbst die milde Andeutung eines Körperkontaktes machte Nayar verlegen. Er zuckte bloß mit den Achseln, dann vollführte er eine Geste, wie um zu sagen: Was kann eine Vaterfigur schon tun? –, und entfernte sich.
Als Makali um die Ecke des Tempels bog, um sich tiefer in das Habitat hineinzubegeben, sah sie, dass jemand auf die raue Wand gekritzelt hatte: KAENU IS SCHEISE.
Im ersten Moment war sie empört. Welcher Idiot maßt sich an, Graffiti hinzuschmieren – obendrein noch auf ein fremdartiges Artefakt? Und zu allem Überfluss ist der Name falsch geschrieben!
Doch ihr nächster Gedanke war bereits versöhnlicher. Anscheinend fühlten sich manche Leute im Keanu-Habitat schon wie zu Hause. Da sie vermutlich eine sehr lange Zeit hier verbringen würden – möglicherweise
Weitere Kostenlose Bücher