Himmelskrieg: Roman (German Edition)
nur die korrekte Betonung treffen, deinen Akzent ausmerzen und das Vokabular beherrschen, du musst die Worte auch an der richtigen Stelle im Mund bilden.‹ Dann lächelte er – ich erinnere mich noch gut daran – und sagte: ›Nicht ohne Grund wird Sprache auch Zunge genannt.‹«
Vertieft in ihre eigene Geschichte – ihre größte Schwäche, außer sich an ungeeignete Männer zu binden, bestand darin, sich selbst gern reden zu hören, egal in welcher Sprache – bemerkte Valya gar nicht, dass Camilla stehengeblieben war.
»Sind wir dort angelangt, wo du hinwolltest?«, fragte sie das Mädchen.
»Ja«, antwortete Camilla. Doch ihre Körpersprache und ihre Gesten verrieten Valya, dass das Mädchen sich keineswegs sicher war.
»Und was sollen wir hier finden?« Sie standen in der Nähe der Wand des Habitats, die in Valyas Augen aussah wie die in den Himmel aufragende Felswand eines Canyons. Die Wand lag natürlich im Schatten und war ziemlich glatt, doch selbst in dem trüben Licht konnte sie verschiedenfarbige Streifen ausmachen.
Hier wuchsen auch Büsche und Bäume und erschwerten es, festzustellen, ob die Stelle, an der die Wand auf den Boden traf, künstlich aussah oder so geschickt gestaltet war, dass der Übergang »natürlich« wirkte.
Camilla interessierte sich indessen weder für die Wand noch für die Vegetation. Langsam schritt sie an der Wand entlang, den Blick auf den Boden geheftet, wie ein Kind, das am Strand nach Muscheln sucht. »Hältst du nach etwas Bestimmtem Ausschau?«, erkundigte sich Valya.
Das Mädchen schien noch unsicherer zu werden. »Ich … ich glaube schon.« Sie blieb stehen. »Hier.«
Vor ihnen lag eine Fläche, auf der nichts wuchs, und die sich nicht von dem umgebenden Boden unterschied. Bis auf die Tatsache, dass sie völlig eben und annähernd kreisrund war. Als sei eine Art Teller mit einem Durchmesser von zwei Metern im Boden vergraben.
»Ich verstehe«, erwiderte Valya nicht ganz wahrheitsgemäß. »Und was passiert jetzt?«
Camilla lächelte. »Jetzt möchte ich einen Blick in deine Tasche werfen.« Sie streckte die Hand danach aus.
Valya zögerte. Aus irgendeinem Grund wollte sie ihre Tasche nicht hergeben – was sehr merkwürdig war, denn auf der Erde hätte sie einem kleinen Mädchen gern den Inhalt ihrer Tasche gezeigt.
Aber … sie befand sich nicht länger auf der Erde, jeder Atemzug und jeder Anblick erinnerten sie daran. »Warum willst du hineinschauen? Da ist nur ganz gewöhnliches Zeug drin.«
»Ich bin mir nicht sicher, warum ich das will«, antwortete Camilla, die die Hand immer noch nach der Tasche ausstreckte. »Ich weiß nur, dass ich etwas anderes brauche als die Kleidung, die wir am Körper tragen.«
Sie reichte ihr die Tasche, sah zu, wie Camilla sie öffnete und – mit einer gehörigen Portion Respekt, das musste man ihr lassen – den Inhalt herausnahm. Handy. Eine Packung Kleenex. Ausweise. Ein Päckchen Kaugummi.
»Ah!«, sagte Camilla und griff nach einem Lippenstift von Chanel. Die anderen Sachen gab sie mitsamt der Tasche Valya zurück, dann trat sie auf den »Teller« und legte den Lippenstift in die Mitte der runden Fläche.
»Und was passiert jetzt?«, fragte Valya.
»Irgendwas«, lautete die vage Antwort.
Plötzlich spürte Valya durch ihre Sandalen hindurch ein Vibrieren, ein elektrisches Prickeln, das nicht mal eine Sekunde lang dauerte. Dann roch sie etwas, das selbst nach den hier geltenden Maßstäben ungewöhnlich war – ein Gestank wie nach brennendem Kunststoff.
Der Boden, der den Teller bedeckte, riffelte sich, aber nur ein einziges Mal.
Im gesamten Habitat flackerte mehrmals das Licht und tauchte die Szene in bizarre, stroboskopartige Effekte.
Die meisten Menschen sprechen automatisch in ihrer Muttersprache, wenn sie unter schwerem Stress stehen oder verstört sind. Nicht so Valya Makarova. Als sie sah, dass auf einmal zwei Lippenstifte da waren statt nur einer, zitierte sie unwillkürlich ihren ehemaligen Liebhaber, Dale Scott: »Heilige Scheiße!«
Camilla schien genauso überrascht zu sein wie sie. Zögernd griff das Mädchen nach dem »neuen« Lippenstift. »Er fühlt sich warm an«, sagte sie und reichte ihn an Valya weiter.
»Möchtest du den neuen behalten?«
»Meine Mutter hat mir gesagt, ich dürfte erst Lippenstift benutzen, wenn ich zwölf bin.«
Fast hätte Valya gelacht. Dieses Mädchen war gestorben und auf einem anderen Planeten wiedergeboren worden! Gerade hatte sie bei einem
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