Himmelsmechanik (German Edition)
sondern weinte und fluchte nur noch. Man weiß nicht einmal, ob sie ihren Sohn wiedererkannte; sie lebte oben im Bauernhaus und konnte noch die vier Schafe hüten, die sie über den Krieg hatte retten können. Jedenfalls jagte sie den Mann nicht weg, der sich als ihr geliebter, wundersam auferstandener Sohn vorstellte, und der Sohn begann Haus und Güter wieder in Ordnung zu bringen, und unterhielt die Frau, die nur vor sich hin brummelte. Das einzige Mal, dass ich den Omo Nudo von seiner Mutter sprechen hörte, war, als er Nita sagte, sie habe so schöne Brüste wie sie. Und dabei funkelten seine Augen so verträumt, als sei er gerade erst abgestillt worden und würde ringsherum nach den Brüsten seiner Mutter suchen.
Und das ist das, was wir alle wissen, denn die Geschichte von Otello, seinem Vater Amanteo, dem englischen Kaffeehauskellner, seiner Frau Melina und seinem heute noch lebenden Sohn ist eine von denen, die wir am liebsten erzählen, weil sie voller Leidenschaft und reich an pikanten Geheimnissen ist.
Da ist also dieser Junge, den sie mit sechzehn Jahren nach Sachsenhausen verschleppen und der drei Jahre später von dort zurückkehrt, nackt wie ihn Melina schuf, und wer ihn fragt, wieso ihm so heiß ist, antwortet er, dass er nach der Kälte, die er da oben empfand, nur noch Hitze spüren kann. Und er sagt »da oben«, ohne Weiteres zu erklären, er hat auch nie etwas von diesem »da oben« erzählt, außer den wenigen Sätzen über seinen Freund William Grover-Williams. Der ihn neben den vielen wertvollen Dingen des Lebens auch die Politik gelehrt hat, aufgrund derer er ins Eis des Nordens geschickt wurde, ohne dass er es in seinem Unwissen merken konnte. Wenn er nun kommt, um sich im Schnee zu Lichtmess zu reinigen, und zum Singen auf den Nussbaum steigt, ist alles, was Nita und ich sehen, ein gesunder und freier, vielleicht sogar glücklicher alter Mann.
Der Omo Nudo freut sich, dass Nita sich an seinen richtigen Namen erinnert, und wenn sie es tut, jauchzt er und suhlt sich in seiner sanften und gezierten Obszönität. Bei allem Leiden, das er ihm einbrachte, liegt ihm etwas an seinem Namen, obwohl er den Spitznamen nie unschicklich fand, mit dem ihn die Welt des Reviers beehrt, und voller Stolz nennt er der Behörde seine vollständigen Personalien: Giannoni Bresci, Sohn des verstorbenen Otello, Omo Nudo für das Volk. Die Behörde zeigt gewöhnlich kein Interesse an der Vollständigkeit der Informationen, die Bresci zur Verfügung stellt, jedoch geht auch der junge Nesbø aus dem Norden, der so gesetzestreu und pflichtergeben ist, wenn er mit ihm etwas besprechen muss, durch das Tal und fragt nach dem sogenannten Omo Nudo.
Als würde er es lieber mit dem Staatsfeind Nummer eins der Schlachthygiene zu tun haben, als diesen Bresci zu erwähnen, der mit seinem Großvater üben kam, um auf den König von Italien zu schießen. Vielleicht fällt es aus demselben Grund allen schwer, ihn mit seinem Vornamen zu rufen: An diesen Namen ist eine Verantwortung gekettet, die Otello unbesonnener Weise auf die leichte Schulter genommen hat, doch im Nachhinein haben wir gelernt, sie zu schätzen. Geister beschwört man nicht leichtfertig, man weckt sie nicht ungestraft.
Der Omo Nudo und ich sprechen uns kaum mit Namen an, zwischen ihm und mir genügen oft stumme Gesten, manchmal Gebrummel. Müsste ich einen Namen wählen, dann könnte ich mich nicht für den einen oder den anderen entscheiden, denn wenn ich an ihn denke, brauche ich sie beide. Bresci ist nackt zurückgekehrt, das hat mir die Duse, meine Mutter, gesagt, und sie erzählte mir alles. Er kehrte zurück, als ich gerade geboren war, und ging hoch in sein Bauernhaus, um es wieder in Ordnung zu bringen und vom Krieg zu säubern. Er brauchte Jahre dafür, Jahre, in denen niemand etwas von ihm erfuhr, außer dass er seltsam war und dass er jeden, den er traf, mit Schweigen behandelte. Meine Mutter begegnete ihm auf dem Weg zu ihrer Arbeit nach Capria, und vielleicht redeten beide miteinander. Denn eines Tages, und es waren schon Jahre vergangen, kam er an unsere Tür und bat um Erlaubnis einzutreten, so wie er war, das heißt halb nackt und mit seinem Wildgeruch, denn wenn er nicht störe, sei er gekommen, um eine Kleinigkeit für den Sohn, für mich, dazulassen.
Ich war acht Jahre alt, und ich erinnere mich gut an ihn und an die Kleinigkeit, die er mitbrachte. Es war eine Blechschachtel, und er öffnete sie vor meinen Augen; in der Schachtel war ein
Weitere Kostenlose Bücher