Himmelsmechanik (German Edition)
ihrer wirkungsvollen und banalen Ausführlichkeit erschloss, so standen in diesem Buch nicht einmal die Hälfte der Geschichten, die in der Blechschachtel eingeschlossen waren. Nein, noch viel weniger.
Als Mann dachte ich an den ersten Besitzer der Schachtel und des Buchs. Die Amerikaner hier hielten die Front mehrere Monate lang, bis zum Ende des Kriegs. Es waren die Schwarzen aus der Buffalo-Division, die Onkel und Großonkel des gewählten Präsidenten Obama. Aber diejenigen, die sie gesehen haben, haben sie nicht lächelnd und große Hoffung ausstrahlend, sondern eher düster, traurig und müde in Erinnerung. Manche von ihnen hatten schon drei Jahre Krieg hinter sich, alle hatten sie so viel vom Tod gesehen, dass sie mit nichts mehr Mitleid haben konnten. Das Abenteuerbuch eines blonden, bärtigen Weißen wurde jedoch von einem Schwarzen des Buffalo-Regiments gelesen, während er in irgendeinem im Schnee versunkenen Loch in Richtung Cerageto oder dort oben Dienst leisten musste. Ich glaube, dass auch er lieber die Schachtel seines Buches las. Dass, wenn er ab und zu seine Kennziffer auf dem Deckel las, dies mehr als jeder Abenteuerroman seine Fantasie anregte. Und dass es ihm schon besser ging, wenn er nur diese Schachtel anfasste, er weit weg von diesem widerwärtigen Platz war, wo er sich verkrochen hatte, viel weiter weg als der Nordpol. Die Behältnisse zählen allerdings; das Wesentliche am Geschenk des Omo Nudo war die Liebe zum Blech, nicht die zur Literatur. Er wollte mich nicht den Krieg gewinnen lassen, und auch nicht den Frieden: Es hätte ihm nur gefallen, dass ich die Sprache des großen William Grover-Williams lernte. Wer weiß, vielleicht hoffte er, dass er, wenn ich es schaffen würde, noch einmal das Privileg bekäme, nächtliche Vorträge über die großen Fragen des Lebens zu hören, die ihm sein Freund nicht mehr rechtzeitig hatte vollständig darlegen können.
Wenn ich dann als Mann zu lesen angefangen habe, und in diesem Haus, wie ich schon sagte, wurde auch weiter ziemlich viel gelesen, dann habe ich nicht etwa die wunderbaren Tugenden meiner Blechschachtel vergessen: Man findet nämlich nicht mehr so gut gemachte Schächtelchen. Jetzt habe ich meine Bücher, die, die ich noch nicht wegwerfe, in einigen Kisten, die ich von hier oder da herhole; aber das bedeutet nichts, das ist nur, weil es praktisch ist. Nita ist deswegen wütend, sie liebt die Regale der Bücherwände, die Ordnung in den Regalen, die Beharrlichkeit beim Aufbewahren dessen, was sie füllt. Wir lesen nämlich unterschiedliche Dinge, ich erkläre ihr: Ich lese nur minderwertigen Kram. Und das bringt sie unsäglich auf die Palme. Die Blechschachtel bewahre ich jetzt gut geschützt auf dem Querbalken im Schweinestall auf, wo die Figur des heiligen Antonius, des Schutzpatrons meiner Schweine, hängt; darin habe ich ein Heft mit chemischen Formeln, einen seit einer Weile abgelaufenen Reisepass und eine Rolle 100-Franken-Scheine. Das waren lange Zeit meine wichtigsten Dinge, denn sie hätten mir genügt, um zu gehen, wohin ich gewollt hätte, zu jedem Zeitpunkt, um alles Mögliche zu tun. Jetzt nicht mehr; aus eigenem Willen, und nach dem, wie sich die Dinge in der Welt entwickelt haben. Doch bis vorgestern, so kann man sagen, war diese Schachtel der beste Roman, den ich zu lesen erwartet hatte.
Ich habe mit dem Omo Nudo nie die großen Fragen des Lebens erörtert, auch nicht, als ich perfekt die Sprache seines Freundes William Grover-Williams gelernt hatte. Er und ich haben nie besonders geredet; heute ist Nita da, wenn er ein paar Meinungen austauschen will, die ihm am Herzen liegen, und er kann das in mehreren Sprachen tun, auch wenn es sich um große Fragen handelt. Aber seit dem Tag mit dem Kuss auf den Bauch wurde er mir zum Verwandten. Vielleicht war das schon sein Gedanke, als er an die Tür klopfte, wer mag das wissen. Was man sah, was die Duse sah, die Sache, der sich die Santarellina sicher war, was ich spürte, war, dass man den Omo Nudo immer in der Nähe antraf. So ist das bis heute. Ohne, dass man es sieht, wild und starrköpfig in seiner Einsamkeit, begegnet er mir am Ende immer, weil er da vorbeikommt, weil er etwas erfahren will. Wenn ich als Junge den Fluss bis zu den Teichen von Bolognana entlanglief, weil ja bekannt war, dass bei den Staudämmen keine Sirene heulte, und ich so schwimmen und angeln könnte, solange ich Lust hatte, konnte ich sicher sein, dass vor dem Abend der Omo Nudo dort vorbeikommen
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