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Himmelsmechanik (German Edition)

Himmelsmechanik (German Edition)

Titel: Himmelsmechanik (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio Maggiani
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annehmen sollte, womit ich die Existenz einer Bindung bestätigen würde, die mich erschreckte; die Duse sah mich schweigend an und wartete geduldig, dass ich tat, was meine Aufgabe war und was man mir beigebracht hatte.
    Wenn Kinder in die Enge getrieben werden, bringen sie immer etwas zustande, was vor allem sie selbst überrascht, und wenn nicht sofort, dann womöglich ein Jahrhundert später. Tatsächlich wundere ich mich, soweit ich noch weiß, wie ich war, so, wie ich bin, so, wie die Dinge von da an bis heute liefen, noch immer darüber, was ich getan habe. Hätte da nicht der Omo Nudo vor mir gestanden, so wäre das nichts Besonderes gewesen: Ich ging zu ihm und gab ihm einen Kuss auf den Bauch, auf den Bauch, der aus dem Loch in seinem Unterhemd herausstand. Das Einzige von ihm, das in Reichweite war: der nackte Bauch des Omo Nudo. Und ehrlich gesagt, weiß ich nicht, warum ich dachte, mich in diesem Moment revanchieren zu müssen, als ich das tat, was von mir zu verlangen niemandem auch nur im Traum eingefallen wäre.
    Am Abend, als Nita das Geschenk des Omo Nudo in einer der Kisten fand, in denen sie immermeine Bücher sucht, habe ich ihr die Geschichte mit dem Kuss erzählt, denn zum Thema Promiskuität ist das vielleicht das Merkwürdigste, was mir jemals passiert ist, und weil der Omo Nudo dieses Haus mit der würdevollen Vertrautheit von jemandem besucht, der mit allen Wassern gewaschen ist und es sich nicht anmerken lässt. Aus irgendeinem verborgenen Grund hat sie, die sich nicht scheut, mit unverschämter Offenheit jegliche Art von Schweinerei zu äußern, sich eines Kommentars enthalten. Es wurde nicht mehr darüber gesprochen. Doch zwischen den beiden herrscht eine Vertrautheit, die mir unerwartet und verdächtig vorkommt, und gerade in diesen Tagen, wo ich geneigt bin, häufiger und hingebungsvoller Nitas nackten Bauch zu küssen, ihn mir durch die Spalten und Löcher ihrer Pullover, Hemden und Unterhemden zu suchen, frage ich mich, ob das Lächeln, das über ihr Gesicht geht, wenn ich meinen Kopf wieder zu ihren Augen hebe, nur ein Lächeln stillen Vergnügens ist.
    Nach dem Kuss, den ich ihm auf seinen runden, harten Bauch gab, ging im Omo Nudo nichts vor; er blieb stehen, wie er war, sah mich nicht auf besondere Weise an und sagte nichts zu mir. Die Duse sah mich an, und ich sah sie an und erwartete etwas Unangenehmes, das aber nicht kam. Er dachte einfach, dass mir sein Geschenk gefiel, und ging. An jenem Tag habe ich von ganz nahe gesehen, wie groß und stark er war, was für eine rote, glänzende Haut er hatte, die im Halbdunkel der Küche, ja, es konnte so aussehen, leuchtete.
    Ich ging in den Garten hinunter und stellte mir die Schachtel zwischen die Beine und begann das Büchlein zu lesen; ich wusste nicht, was da stand, aber ich las trotzdem. Ich mochte es gern in der Hand halten wegen seiner Form, die so anders war als die aller anderen Bücher. Ich mochte, dass es in einer Sprache geschrieben war, die aus einer anderen Welt kam, der Welt der Polargletscher und der Forscher. Aber ich mochte vor allem, dass es ein spezielles Behältnis hatte, das unendlich schöner war als die Lederranzen für die Schule, anders als alles andere, was ich bei einem anderen Jungen in der Hand gesehen hatte; ein Kasten, der aus dem Krieg kam, schon voller Geheimnisse, als er noch leer war von allem, was ich dachte, hineinstecken zu können. Ein Ort der Intimität, hätte ich gedacht, wenn ich gewusst hätte, was das heißt.
    Jahrelang blieb der Omo Nudo, wenn er mich traf, stehen und fragte mich: Also, wie läuft’s mit dem Amerikanischen? Sonst wollte er nichts wissen, nur von meinen Fortschritten mit den
Arctic Adventures
. Es lief ausgezeichnet, es war mein Lieblingszeitvertreib. Ich glaube, ich habe es drei oder vier Mal gelesen, noch bevor ich auch nur ein Dutzend der vielen tausend Wörter kannte, die es enthielt. Doch der faszinierendste Teil des Buchs blieb immer sein Behältnis. Lange Zeit, bis es unvermeidlich wurde, dass ich mich dessen schämte, gab es immer einen bestimmten Moment des Tages, in dem ich mich mit meiner Blechschachtel auf den Knien irgendwo hinsetzte. Und wenn ich sie hielt, wenn ich die stets identische Konsistenz ertastete, wenn ich die glatte Festigkeit und den säuerlichen Moschusgeruch des Metalls genoss, schon in diesem Moment war ich Forscher und Gletscher, Eisbär und Wal. Und wenn sich mir nach so viel Leiden und Erfinden die Sprache von
Arctic Adventures
endlich in

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