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Himmelsmechanik (German Edition)

Himmelsmechanik (German Edition)

Titel: Himmelsmechanik (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio Maggiani
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haben wir uns an diesen beiden Tagen gesagt. Wenn wir überlebt haben, dann weil wir am Ende einen Pakt geschlossen haben. Dieser Pakt ist immer noch gültig. Auch heute, so höre ich mich sagen, obwohl sie schon seit einer Weile tot ist. Heute mehr denn je, da nur noch ich übrig geblieben bin, der ihr Ehre erweisen kann.
    Ich erinnere mich an die Frau, die nachts wegging. Und manchmal ließ sie es zu, dass ich sie sah, während sie wegging. Sie weckte mich, bevor sie sich fertig machte, und brachte mich wieder ins Bett, bevor sie ging, denn ihr Aufbruch war auf vier Uhr morgens gelegt: Damals gab es keine andere Möglichkeit zur Schule zu gehen als zu Fuß. Für sie wie für ihre tapferen Schüler. Im Unterschied zu diesen hatte sie ein Fahrrad, immer noch dasselbe wie auf dem Foto, und immer noch glänzend vor Öl und Chrom, aber mit dem Fahrrad konnte man nicht zur Capria kommen. Wie ihre Schüler musste sie pünktlich zum Montagsunterricht sein, doch sie musste noch rechtzeitig das Klassenzimmer heizen und den Fußboden fegen und die Mäuse begraben, die in den Fallen gelandet waren.
    Für den Weg hatte sie wunderschöne amerikanische Bergstiefel; sonntagabends stopfte sie sie an der Spitze mit Baumwolle aus, weil sie ihr etwas zu groß waren. Und sie hatte einen langen, groben Rock aus Barchent, der mir die Knie rötete, wenn ich sie daran rieb. Und eine Baumwolljacke mit Samtrevers, die ich als Großer gerne gehabt hätte, weil sie vor allem Knöpfe aus Horn mit dem Profil eines Pferdekopfes hatte. Und unter der Jacke alle Pullover, die sie brauchte, denn um diese Uhrzeit war es in den meisten Unterrichtsmonaten kalt. Und dann eine Militärazetylenlampe von irgendeiner Armee, welcher, wusste sie nicht mehr, damit sie in den Wäldern Licht hatte, bis der Morgen anbrach. Und im Rucksack, mit einem Gummiband in einem Leinenlappen eingewickelt, der laut der Duse gebraucht wurde, als sie mich stillte, die Blechdose mit dem Antischlangenserum; aber nur in der Jahreszeit, wenn es heiß wurde und die Schlangen schon zu früher Stunde unterwegs waren.
    Auch der Rucksack war amerikanisch, und es gab das Versprechen, ihn mir zu vererben, wenn die Duse damit fertig wäre, zur Capria zu gehen; vollgepackt war er so schwer, dass sie mir verbot, zu versuchen ihn mir aufzusetzen. Vielleicht spielte sie sich ihrem Sohn gegenüber auch nur ein bisschen auf, aber sie musste schon hart bleiben, denn darin war alles, was sie in den Bauernhäusern nicht zum Essen, zum Anziehen und für ihre Arbeit bekommen würde. Als Letztes setzte sie sich, nahm die große Masse ihrer Haare und band sie sich fest auf den Kopf: Wenn sie damit fertig war, sah es aus, als trüge sie darauf einen Korb.
    Und sie schminkte sich die Lippen; schon ganz fertig angezogen, mitten im Zimmer stehend, nahm sie aus ihrer Jackentasche das Kästchen mit dem kleinen Spiegel und dem roten Stift und fuhr sich über die Lippen. Ich weiß noch genau, wie eifersüchtig ich auf diese geschminkten Lippen war, auf diese Divengrimasse, mit der sie sie schürzte, um die Farbe darauf zu verteilen. Sie, die Mutter und Lehrerin, erklärte mir, dass sie das nur aus Trotz gegenüber dem Schulamtsleiter tat. Und sie erzählte mir, wie sie 1949 ihre Stelle als Lehrerin antrat und der Schulamtsleiter wollte, dass sie ihm ihre Hände zeigte. Ich wollte mich nur überzeugen, ob Sie Lack auf den Fingernägeln haben, denn das Amt, das ich Ihnen zu geben habe, passt nicht zu einer Dame, die an Nagellack gewöhnt ist, sagte er zu ihr. Die Duse hatte keinen Lack, und so gab man ihr ihre Bergschule. Doch da sie die Oberflächlichkeit ihres Vorgesetzten inakzeptabel fand, wollte sie ein Zeichen der Auflehnung tragen, denn wenn für die Capria Nagellack nicht in Ordnung war, dann wären sicher auch rote Lippen nicht in Ordnung. Wenn eine Lehrerin dazu bestimmt ist, sich die Hände zu ruinieren, so argumentierte meine Mutter, dann umso mehr, sich den Mund zu verschleißen. Und ein anderes Mal, soweit sie sich erinnerte, setzte der Schulamts- leiter auch das auf die Verbotsliste. Doch sie sprach freimütig mit mir, genau wie mit einem Erwachsenen, das war ihre Methode.
    Ich habe sie nie aus dem Haus gehen sehen, und das ist gut so. Sie legte mich wieder unter die Decken, gab mir zwei Küsse auf den Hals, wie ich das später Liebende tun sah, und legte mir das Goldkettchen mit dem Wecker um den Hals. Es war ein kleiner silberner Wecker, und wenn ich ihn berührte, gab er mir ein starkes und

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