Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Himmelsmechanik (German Edition)

Himmelsmechanik (German Edition)

Titel: Himmelsmechanik (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio Maggiani
Vom Netzwerk:
habe ich bemerkt, dass sie einen Blick in ihr Kästchen mit dem Spiegel warf, bevor sie auf mich zukam. Ich war damals gekommen, um sie zu treffen, und ich glaube immer noch, in der Absicht, noch einmal zu versuchen, mein Gesicht in der Masse ihrer Haare zu versenken. Um den Duft ihres Lebens zu riechen, ob noch der alte Gestank da war oder ob sie einen neuen gefunden hatte. Aber seit einer guten Weile bin ich zwei Handbreit größer als sie, und die Sache wäre nur lächerlich; vorausgesetzt, sie hätte es noch mit sich machen lassen.
    Das letzte Mal, dass ich sie sah, war an Fronleichnam vergangenen Jahres. Sie war auf der Straße vor ihrem Haus und verstreute eine große Schürze voll Blütenblätter auf dem Asphalt für die Prozession, die dort vorbeikommen würde; es waren ihre unbekannten ausländischen Blumen. Wir haben nicht viel geredet, haben uns aber geküsst, und ich habe mich hinuntergebeugt, damit sie mich auf den Hals küssen konnte, wie sie es immer getan hat. Wieder einmal würde ich in mein Leben zurückkehren, ohne dass sie die schulmeisterliche Notwendigkeit fühlte, mir diesbezüglich etwas zu sagen, sondern mit der feuchten Spur ihrer Lippen und dem Rot an der Stelle, wo es eine Geliebte hätte hinterlassen müssen; und ich erinnere mich, dass ich mit einer gewissen Befriedigung dachte, Nita würde es bemerken und sich fragen und lange ärgern müssen, bevor sie sich dann entschloss, diesen Strich zu ignorieren und vielleicht zu vergessen. Sie und die Duse sind einander nie begegnet. Es war keine Entscheidung, sondern die praktische Kraft der Dinge und eine stillschweigende Übereinkunft.
    Und da fragt man mich, was ich nun mit den sterblichen Resten meiner Mutter zu tun gedenke. Ich habe um ein paar Stunden gebeten und diese Zeit dafür genutzt, an die Pania zu denken. An die Pania della Croce, zwischen den drei Pania-Gipfeln.
    Jetzt gehe ich an die Haustür und sehe sie. Hoch über den südlichen Kämmen, in den Himmel geneigt, als wollten die anderen Berge nichts mehr von ihr wissen; spitz und gotisch, glühend bis vor einer Viertelstunde, als die Sonne flach im Westen stand und sie schräg entlang dem Bergrücken des Omo Morto entzündete, als wäre sie mit den Händen im Sack erwischt worden und würde der ganzen Welt zur Schau gestellt. In diesem Moment ist die Felsenburg, an der sie lehnt, violett und ihre Höhen blau. Wenn es noch eines speziellen Warnzeichens bedurfte, so strahlt vier Finger über ihrem Gipfel Venus und weitere vier Finger darüber, nicht weiter als um ein, anderthalb Grad nach Osten verschoben, dominiert durch Licht und Masse Jupiter. Einsame Liebende, am Himmel noch von einem Schimmer gefärbt, vereint, um sich Leben und Tod streitig zu machen. Gestern Nacht hat Nita sie bemerkt und daraus ihre Wahrsagungen von Gesundheit und Eintracht gezogen.
    Niemandem von hier kämen Eintracht und Gesundheit in den Sinn, wenn er zur Pania blickt, tagsüber oder nachts, mit oder ohne Sterne und Planeten. Um die Wintersonnenwende herum, wenn ihr Schatten den Grat herunterrutscht und Alpe di Sant’Antonio in Dunkelheit taucht, verkriechen sich die Menschen dieses Ortes den ganzen Tag zu Hause. Ein Schatten böser Geschichten, der sich mit dem langen schleppenden Gang der Abendhexer verbreitet, an die man in diesem Sprengel noch glaubt, und die man deshalb auch sieht. Auf der Pania sind so viele Menschen gestorben, viel mehr als auf der Vetta delle Saette und auf jedem anderen Berg des Reviers. Da die Pania nie irgendjemandem etwas zum Leben gegeben hat, und sei es auch nur einer Ziege, erschien sie immer als geeigneter Ort, um zu sterben. Sie liegt viel zu nahe am Meer, urteilen die Bergbewohner, und ist zu sehr der Bösartigkeit des Windes ausgesetzt; und mindestens darin haben sie Recht, denn ihr Gipfel ist das Auge eines Wirbels von Strömungen, die sich Stunde um Stunde zwischen dem Apennin und dem Meer kreuzen. Aus diesem Grund sind die Geröllhalden, aus denen das Gebirge seine Felsenburg ausstößt, ständig in Bewegung, als wären sie flüssig, instabil und trügerisch, wie es das Wasser des Meeres für die Hiesigen ist. Auf diesen Geröllfeldern sind die habgierigsten und schamlosesten Hirten gestorben, die sich, um ein schon verkrüppeltes Lamm zurückzuholen, die Beine gebrochen haben, ohne dass sie jemand rechtzeitig hätte holen können, verloren in den Abendwolken, erfroren in der Nacht. Auf der Pania erfriert man; du kauerst dich an einen Stein und dein Atem schäumt

Weitere Kostenlose Bücher