Himmelsmechanik (German Edition)
sie abends las und nähte. Über dem Sofa hing eine Lampe in Form einer blauen Blume; die Lampe brannte Tag und Nacht, weil in diesem Zimmer die Fensterläden immer geschlossen waren. Im Zimmer standen auch ein quadratischer Tisch und zwei Stühle; auf diesem Tisch erledigte ich meine Hausaufgaben, und sie korrigierte die ihrer Schüler. Wenn sie damit fertig war, korrigierte sie auch meine – an den Tagen, wenn sie von der Schule kam, samstags und sonntags, und in den Ferien. Dann sah ich meine Mutter, den Rest der Woche kümmerte sich die Santarellina um mich – solange die Duse in der Schule der Capria oben in den Bergen unterrichtete, also bis ich zehn Jahre alt war.
Sie erzählte mir immer, was ihr in der Capria passierte. In die Schule gingen die Kinder der Hirten, die die höchstgelegenen Bauernhäuser des Sillico-Tals bewohnten. Sie unterrichtete in einem Haus aus mit Mörtel verputzten Steinen, das mit einem Käser geteilt wurde, im Raum neben ihrem Klassenzimmer ließ der Käser die Milch kochen und verdicken. Das Haus stand am Rande eines Kastanienwaldes, der dem Volk von Sillico gehörte, das ihn seit vier Jahrhunderten von Familie zu Familie reihum pflegte. Jede Pflanze hatte einen Namen und die Schulkinder kannten sie alle; jede hatte einen Geist und die Kinder sprachen mit jedem. In der Schule fragte die Duse sie darüber ab, was sie von den Geistern hörten und was sie ihnen sagten, und die Kinder antworteten, es gäbe gute und weniger gute. Die guten begleiteten sie, wenn es dunkel wurde, und erklärten ihnen, wie sie ihre Spuren verwischten, wenn in den oberen Wäldern die Wölfe ihren Geruch witterten und sich bereit machten, herabzusteigen; denn Wölfe sind vorsichtig, aber auch sehr neugierig, und sie starben vor Lust zu sehen, ob im Tal ein Schaf oder ein kleines Kind vorbeikam. Die weniger guten brachten sie vom Weg ab, damit sie sich die Schuhe ruinierten, und ließen ihnen den Kastanienkuchen sauer werden, den sie zum Frühstück mit in die Schule brachten. Die Schlimmsten unter den weniger guten verwandelten sich gegen Abend in eine
belùa
und entführten die Einzelgänger. Ein Junge, der mit seiner Mutter und seinen Schwestern in der Sella di Cerasa wohnte, hatte einen Kastanienbaum namens Benjamin zum Vater genommen, denn er hatte seinen ersten Vater im Krieg verloren und brauchte einen neuen; in der Schule war er nicht schlecht, doch ab und zu schlief er ein, und im Schlaf sprach er mit seinem Vater und antwortete auf dessen Fragen. Der Junge hieß Mirto.
Als sich die Menschen dieses Reviers Mitte der Fünfziger vom Krieg erholt hatten, als dann die Schule der Capria geschlossen wurde, fingen alle an, nach England und Australien abzuhauen, wo sich bereits in den vergangenen Generationen etliche hingeflüchtet hatten, und in den Bergen blieb für mindestens dreißig Jahre niemand mehr zurück. Einer der ersten, die weggingen, war Mirto mit seinen Schwestern, denn sie hatten einen Onkel in Newcastle, und sie machten ein Vermögen, indem sie als Küchenhilfen in den Luxushotels dieser Stadt anfingen, als die Londoner noch dachten, dieser kalte Seeort sei ideal für die Badesaison. Jetzt ist Mirto einer der Engländer, die keine Lust mehr haben, nach Hause zurückzukehren, und so schickt er seine Kinder. Die Kinder kommen, bleiben eine Weile in ihren Bauernhäusern in der Sella di Cerasa, und bevor sie wieder abreisen, übergeben sie im Namen ihres Vaters hundert Pfund Sterling für Benjamins Unterhalt an die Gemeinschaft des Volkes von Sillico. Die Gemeinschaft übergibt den Kindern zehn Kilo Kastanienmehl, ein Säckchen getrockneter Kastanien und ein paar Kilo Äpfel, mal mehr, mal weniger; das ist das, was der Kastanienbaum, der der Mirto als Vater diente, dem Volk noch gibt. Die Duse war Lehrerin und erzählte mir keine Märchen. Und was ich feststelle, ist, dass die Kinder und Enkel der Engländer, die zurückgekehrt und dageblieben sind, um das Revier zu bevölkern, sich offensichtlich noch vor dem Wittern der Wölfe fürchten, und wenn man sie im Wald trifft, hört man sie oft leise vor sich hin sprechen.
Doch inzwischen wurde das Haus von einem Hund bewacht, schwarz und bösartig wie die Nacht; der Hund versuchte, die Kinder zu beißen, bis sie sich in den Schulbänken in Sicherheit brachten, aber nachts bewachte er die Duse. Die Duse schlief in diesem Haus, in einem Hängeboden über dem Klassenzimmer, wo, bevor die Schule eröffnet wurde, der Käser gewohnt hatte. Da war noch
Weitere Kostenlose Bücher