Himmelsmechanik (German Edition)
Rudimente des einfachen Sanskrit der Zigeuner aus dem Orient nicht kennt, und der in den Wangenknochen, die sie hoch unter ihren runden, besonders schwarzen Augen tragen, nicht die unverwechselbare Arroganz der Sinti erkennt. So kommen sie, anstatt ein unwahrscheinlicher Stamm rebellischer Sklaven zu sein, einfach aus Indien und ließen sich zur Zeit der letzten großen Pest in Europa im Revier nieder, als das noch warme Herz eines der Ihren ungefähr ein Laib Brot wert war. Sie ließen sich nieder, weil die Art von Sesshaftigkeit, die sie hier pflegen konnten, das Umherschweifendste war, was sie hier genießen konnten. Vielleicht ist es eine banale Frage des optischen Effekts, aber wer in diesen Tälern lebt, ist der Überzeugung, nie eine Minute stillzustehen; dies trotz besorgter Studien der Behörden, die hingegen ergeben haben, dass das Revier angesichts des stürmischen Weltenlaufs außergewöhnlich ruhig geblieben ist. Es ist also sehr viel wahrscheinlicher, dass sie Zigeuner sind, und darin liegt nichts Schlechtes, außer dass es ihnen überhaupt nicht gefällt; sodass sie sich im Laufe der letzten beiden Jahrhunderte von ihren abtrünnigen Pfarrern große Bücher auf Latein und Italienisch schreiben ließen, beides Sprachen, die für sie selbst sehr schwierig waren, um die heilige Sache ihrer Legende zu vertreten. Ein pathetisches, aber auf edle Weise mühevolles Vorhaben; und auch das wird das Märchen unterstützen, dass sie Erben eines Stammes befreiter Sklaven sind.
In Wirklichkeit hat sich ihre Legende über die Welt verbreitet, nicht von unlesbaren Büchern und Sekten, sondern von ihren Migranten getragen. Von den Engländern, wie wir sie weiterhin nennen und mit allen anderen durcheinanderbringen, die weggegangen sind, auch wenn die aus Vagli nicht nach London gehen wollten und eher in Patagonien und in der Provinz von Canberra landeten.
Das waren die richtigen Weiten für sie, wo sie umherschweifen und Krieg führen und fantasieren konnten, wie es gleichermaßen in der Natur der Zigeuner wie der rebellischen Sklaven liegt. Dort, in diesen einsamen Kontinenten, wo die Geschichten alle neugeboren sind und der Legendenstoff ständige Nahrung braucht, haben sie sich mächtig bemüht, die eigene Rache auszutoben, indem sie ihre auffallenden Epen verbreiteten, sie im Licht der Hirtenfeuer besangen, sie über dem Dampf der Suppenteller der Armenküchen flüsterten, sie den englischsprachigen Arbeitgebern im Staub der Main Streets, wohin sie zur Arbeitssuche gingen, ins Gesicht schleuderten.
So haben sie es geschafft, sich so bemerkbar zu machen, dass sie hervorragende Anthropologen überzeugen konnten, Ozeane zu überqueren und an der Quelle ihrer faszinierenden Geschichten direkt im Ursprungsrevier zu trinken. Hier lauschen und spähen, fragen und fotografieren diese vornehmen Restesammler schon seit Jahrzehnten. Sie betrinken sich und zeichnen auf, in der Illusion, der jahrhundertealten Einzigartigkeit von Vagli auf den Grund zu kommen. Die Vagli-Bewohner laden sie zum Abendessen ein, geben ihnen ihren
striscino
zu trinken und erzählen ihnen, was ihnen am ehrenwertesten und am geeignetsten erscheint, die Neugier der Wissenschaft zu befriedigen, und die Forscher geraten in Entzücken. Dann zeigen sie ihnen, wie sie es in ihrem Gemeinderat mit dem Gesetz halten, und sie schreiben alles auf und drehen Filme mit Tränen in den Augen, als wohnten sie dem letzten Menschenopfer bei. Sie interviewen ihre Frauen und verlieben sich in alle jeglichen Alters. Sie haben ihre Gründe.
Berufsmäßig engagierten sich die Männer bevorzugt als
tecchiaioli
in den Marmorsteinbrüchen;
tecchiaioli
wie sie gibt es keine. Der
tecchiaiolo
ist der Akrobat, der hinaufklettert und am Seil hängt, um den Ort der Marmorader auszubessern und zu reinigen, nachdem die Explosion der Mine Schutt hinterlassen hat, die die Menschen töten könnten, die dann am Bruch arbeiten müssen. Heute geben sie ihnen ein paar Karabinerhaken mehr, und wenn sie wollen, können sie sich sogar in die Sicherheitsleine einklinken und sich einen Helm auf den Kopf setzen, so sterben weniger, doch bis vor zwanzig Jahren kletterten sie mit einigen Armlängen Seil und ein paar Holzkeilen hinauf und hielten in der einen Hand ihren Fünfkilo-Hammer und mit der anderen versuchten sie sich irgendwo festzuhalten. Sommers wie winters, fast nackt, barfüßig oder mit Ledersohlen. Hinauf zu bereits spiegelglatten Brüchen, und dann über die von den Minen
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