Himmelsmechanik (German Edition)
erkunden. Wir gingen zu Fuß hin, über die Pania Secca, den Forato und den Procinto, und das kostete uns viel Mühe und viel Sohle, wie es sich gehört. Es ist kein sehr schöner Ort, jetzt bestimmt noch viel weniger als damals im Sommer. Jetzt gibt es dort Denkmäler, Mausoleen und Beinhäuser; und Denkmäler sind immer hässlich, wie du sie auch siehst. Und Mausoleen sind schlimmer als Denkmäler, und Beinhäuser noch schlimmer als Mausoleen.
Aber dort gibt es Namen, und ich habe Nita hergebracht, um sie zu lesen. Es sind wirklich so viele, und man braucht so viel Zeit, um sie alle zu lesen, einen nach dem anderen, ohne diesen oder jenen zu überfliegen, ohne welche zu bevorzugen. Jedem Namen die richtige Zeit zu gewähren, ihn gut auszusprechen, damit er nicht schon verloren geht, wenn man den nächsten ausspricht. Jeder Name ist eine Seele, und das ist alles, was auf dieser Erde von einer Seele bleibt. Also darf man keinen durcheinanderbringen, in der Eile niemanden vergessen; ruhig lesen, ohne eine Zeile zu überspringen, man kann durcheinanderkommen. Die Tucci zum Beispiel sind nicht nur Verwandte, sondern acht Geschwister:
TUCCI ANNA MARIA 18 JAHRE.
TUCCI CARLA 3 JAHRE.
TUCCI EROS 13 JAHRE.
TUCCI FELICIANO 10 JAHRE.
TUCCI FRANCA 6 JAHRE.
TUCCI LUCIANA 14 JAHRE.
TUCCI MARIA 3 MONATE.
TUCCI MARIA GRAZIA 8 JAHRE.
Und ihre Mutter Bianca ist woanders, weil das Einwohnermeldeamt will, dass in der offiziellen Schreibweise zuerst der Mädchenname kommt, doch deswegen darf man nicht vergessen, dass sie dort sein müsste, wo ihre Kinder sind; also wird sie gesucht und im Geiste an ihren Platz zurückgeführt. Wenigstens im Geiste.
Ein Nachmittag genügt nicht, um die Namen von Sant’Anna zu lesen, wie es sich gehört. Deshalb habe ich Nita Anfang Juni hergebracht, damit sie unter der Sonnenwende alles Licht hatte, das sie brauchte. Sorgfältig schrieb sie die Namen in ein kleines Heft; dann unterstrich sie unter ihnen acht mit einem roten Filzstift. Ich habe nachgesehen: Es sind die Namen der schwangeren Frauen; neben diesen Namen wurde in der Liste auf den Marmortafeln der Stand ihrer Schwangerschaft in Monaten vermerkt. Am 12. August ’44 waren mindestens hundert Mädchen und junge Frauen in Sant’Anna, wer weiß, ob es wirklich nur acht schwangere Frauen waren: Vielleicht wussten es einige noch nicht, vielleicht wollten manche nicht, dass es bekannt wurde. Zu Hause hat meine Frau die Seiten aus dem Heft gerissen und in ihre Keksdose gelegt. Weitere Namen, eine weitere Liste, viel länger als die, mit der sie angekommen ist. Jetzt im Licht ihrer bevorstehenden Mutterschaft frage ich mich, warum sie in einer Zeit totalen Unwissens über ihren zukünftigen Zustand die Notwendigkeit verspürte, die Namen der Schwangeren von Sant’Anna zu unterstreichen. Ob sie sich vielleicht heimlich darauf vorbereitet, eines Tages eine von ihnen zu werden? Die Kameradin aller schwangeren Frauen dieser Welt, oder der Erschossenen und Verbrannten von Sant’Anna? Was sie betrifft, so dürfte sie nichts zu befürchten haben: Hier, wo sie sich zu bleiben entschlossen hat, wird es keine Razzia von Zivilisten geben, wenigstens in den nächsten hundert Jahren sind hier keine Kriege vorgesehen, nicht hier. Nach dem, was zu wissen in unserer Macht steht, wird niemand mit Flammenwerfern einen Anschlag auf unser Leben verüben, und auch nicht auf das der Ungeborenen.
Insofern sie nicht etwas in der Luft wittert, was uns, und mir als Erstem, entgeht. Ich habe scharfe und gut entwickelte Sinne, aber sie noch mehr als ich, das sehe ich. Es gibt Momente, Momente ohne ersichtliche Bedeutung, an denen ich sie überrasche bei unerwarteten Seitenblicken, plötzlichem Zittern des Nasenflügels, Zucken ihrer kurzen Finger, die das Nichts um sie herum erforschen. Dann erinnert sie mich an die Santarellina, wenn sie mich als kleinen Jungen durch die Wälder führte. Als würde sie sich auf einmal nach einem Geräusch umdrehen, das ich nicht hörte, so wie sie ihre Plauderei unterbrach, um etwas zu betrachten, was ich nicht sah. Es erinnert mich an ihre lautlose, ständige Wachsamkeit gegenüber Grenzen, die ich nicht bemerkte. Das hatte sie ’44, vielleicht noch früher gelernt: Sie war mit der Intelligenz der Davongekommenen, der scharfen Hypersensibilität der Flüchtlinge ausgestattet. Sie war den Krieg leid, die Santarellina, und sie war ihn ihr ganzes Leben lang leid. Nicht anders, als sie bis heute den Hunger leid war, obwohl sie in dieser
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