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Himmelsmechanik (German Edition)

Himmelsmechanik (German Edition)

Titel: Himmelsmechanik (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio Maggiani
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ein neuronisches Mikrorelais gibt einem wirksamen Lymphwiderstand Strom; sie glaubt an das, was sie sagt, sie sieht den Gott, den sie ausspricht, und zeigt, dass sie ihm zugetan ist. Nach all dieser Zeit ist es mir noch nicht klar, welchem Gott sie ergeben ist, aber ich denke, das ist ein Problem, das mit der Natur Gottes und nicht mit ihrer zu tun hat.
    Ich selbst, obwohl ich sorgfältig vermeide, seinen Namen zu nennen, bin nicht sehr klar bezüglich der Gottheit. Übrigens kommt es vor, dass wir davon sprechen, wenn wir den Mund voller Zahnpasta oder die Hände voller Artischockenstacheln haben: Der Geist steht über uns, fühlt sich aber nicht imstande, uns all seine vielfältigen Facetten sichtbar zu machen. Unter dieser Art von Umständen kann es vorkommen, dass sich eine unwahrscheinliche Vertrautheit mit dem einstellt, was ansonsten unberührbar wäre; und die Vertrautheit ist der Feind der Kenntnis.
    Dieses ganze Tal ist voll von Zeit und ist mit Menschen bevölkert gewesen, die sich durchschlugen und der Zeit misstrauten, weil sie den Verdacht hegten, es gäbe mehr davon, als man ihnen zusammen mit den Kalendern verkauft hatte. Und noch immer schlagen sie sich durch und ver- mehren sich weiterhin, damit sich auch ihre Kinder durchschlagen, und deren Nachkommen bis zur hundertsten Generation. Und alles, was sie wollen, ist etwas mehr Zeit, als ihnen versprochen wurde von den Regierungen und den Heiligen und den Astronomen. Doch ich wäre gern so optimistisch und wohlgesinnt wie Nita.
    Deswegen habe ich irgendwann auf den Gedanken verzichtet, sie mir vom Halse zu schaffen. Ich habe sie nur gebeten, es nicht zu wagen, öffentlich zu erklären, dass die Liebe etwas retten kann. Sie hat es versprochen, und sie sagt, sie geht nach Orto di Donna, um sich an ihr Versprechen zu erinnern, und wie sinnvoll und logisch es angesichts der Tatsachen doch ist. Unzähliger Tatsachen. Und ich weiß, dass sie mich verrät, und ich zögere, Maßnahmen zu ergreifen, nur weil ich sie liebe, das lässt mich zur Schwäche neigen.
    Die Wahrheit ist, dass Nita insgeheim in sich eine fromme Religion des Entsagens vom Leben hegt, einen Kult unmenschlicher Sanftheiten, die sie dazu führen, bis nach Orto di Donna zu stiefeln, in der Gewissheit, Bestätigung dafür zu finden. Sie sieht, dass dieser Tempel nicht von Gespenstern heimgesucht, sondern von Geistern beseelt ist. Ich weiß, dass sie auch daran glaubt, obwohl sie sich schämt, es mir zu sagen, wenigstens mit diesen Worten.
    Aber die Hirten denken mehr oder weniger wie sie, da sie schon mit dem ersten Heu nach dem vergifteten von ’44 mit ihren Tieren nach Orto di Donna zurückkehrten; und noch heute reifen dort oben die wertvollsten Laibe, der Käse, den sie zu den Wettbewerben bringen, um den gesamten Alpenkreis diesseits und jenseits der Grenzen zu demütigen.
    Doch schließlich kam in jenem Sommer nach Orto di Donna auch Sant’Anna, und davon erfuhr man mehrere Tage später, als die Frauen der Versilia wieder die TODT-Straße hinaufgingen, um die Tambura zu passieren und ihr Salz gegen das einzutauschen, was sie hier bei uns noch fin- den konnten: Speck, Dinkelmehl, Kartoffeln; wer in jenem Jahr ein Säckchen Salz hatte, hatte damit eine Woche zu essen. Nach Monaten, oder Wochen, gingen sie zum ersten Mal den Pass hinauf, aber sie ließen nur ein paar Tage verstreichen; auch nach Sant’Anna wollten die Frauen der Versilia nur leben, wie alle, und dafür musste man sich abmühen und sich in Bewegung setzen.
    Als ich den Omo Nudo fragte, wo er Halt gemacht hatte, als er von Sachsenhausen in seine Heimat zurückging, sah er mich scheel an: Willst du mich auf den Arm nehmen, Kleiner? Warum, sagte er, sollte ich anhalten, um was zu tun? Lieber laufen, als Halt machen und nachdenken.
    Natürlich nicht. Die Frauen aus der Versilia gingen, ohne viel nachzudenken, wieder auf die TODT zurück. Es war einen Tag zu Fuß, in der Nacht hielten sie auf dem Pass zum Schlafen an, warfen sich in die Felder. Einige schliefen aber in der Kaserne der Monterosa; das waren die, die Hunger hatten, aber wirklich Hunger, und dort konnten sie essen, so viel sie wollten, bevor sie mit dem Major schlafen gingen und dann mit dem Unteroffizier und dem Obergefreiten, und dann mit dem, der sonst noch da war. Das hat man später erfahren, ihre Freundinnen haben sie nicht verraten. Ihre Verlobten, ihre Brüder, ihre Väter haben von dem gegessen und getrunken, was sie aus der Kaserne mitbrachten, bis sie

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