Himmelsmechanik (German Edition)
derer, die in diesem Revier geboren sind. Aber ich bin eher groß, und das unterscheidet mich von ihnen.
Dein Vater war groß, hat mir die Duse erzählt, er war so groß, dass er mir die Äpfel vom Baum pflückte, ohne sich auf die Zehenspitzen zu stellen.
Die Äpfel, die mein Vater für meine Mutter pflückte, will jetzt niemand mehr, denn sie sind hart und sauer, bis sie verfaulen. Nur Leute wie der Omo Nudo, die ihre Schweine lieben, kommen sie pflücken. Nichts macht ein Schwein so glücklich, wie wenn es einen schönen Haufen roter Äpfelchen im Schatten des Schuppens sieht, nichts macht ihr Fleisch schöner und würziger als den ganzen Herbst hindurch eine Schaufel voll Äpfel am Tag. Auch meinen gebe ich welche. Aber ich laufe nicht mit dem Sack in den Bergen herum, ich habe in meinem Garten drei wilde Apfelbäume gepflanzt, und das habe ich zu Ehren meines Vaters getan.
Die Duse hat mir erzählt, dass das ihre einzige Ablenkung war, auf den Weiden Äpfel klauen zu gehen. Mein Vater mochte sie, weil sie ihn an den Geschmack einer Frucht aus seinem Land erinnerten. Dies taten sie den ganzen Herbst ’44 und den frühen Winter über. Sie nahmen nur drei pro Kopf, damit sie von den Bauern nicht umgebracht wurden: In jenem Herbst genügte es nicht, eine Uniform und ein Gewehr Kaliber 9 zu haben, um ungestraft Äpfel zu stehlen. Und sie mussten ganz schön sauer sein, damit man sie noch auf dem Baum finden konnte. Zur Saison gehe auch ich ab und zu mit meiner Frau in den Garten und pflücke ein paar Äpfel. Sie bittet mich darum. Hol mir diesen, hol mir jenen, und sie zählt, wie viele ich holen kann, ohne mich auf die Zehenspitzen zu stellen. Ich habe ihr nie von den Äpfeln von ’44 erzählt, das ist kein wichtiges Detail; offensichtlich ist es irgendein Spiel, das Frauen ganz allgemein gefällt, ein System zur Bewertung ihrer Männer. Jedenfalls habe ich aber, auch wenn ich meinem Vater ähnlich sehe, nicht seinen Charakter geerbt: Ich lache fast nie. Ich habe auch nicht den richtigen Mund dazu, ich kann meine Zähne nicht entblößen. Er scheint aber ein schönes Lachen gehabt zu haben. Im Jahr ’44, und das sagt schon alles.
Ich habe ein Foto von meinem Vater, oder besser gesagt, die Duse hatte ein Foto von ihm, das sie mir am Abend der großen Enthüllungen gezeigt hat. Von da an habe ich es nicht mehr gesucht. Es nützt mir nichts, es noch einmal zu betrachten, ich habe es damals auswendig gelernt. Ich habe es nicht einmal gesucht, als ich das Haus der Duse ausräumte, sowie ich auch einen Haufen anderer Dinge nicht gesucht habe, die alle durcheinander in den Kisten landeten, die jetzt zusammen mit der Bücherkiste im Keller stehen. Ich habe ein Foto meines Vaters und weiß nicht, wo es ist. Aber das ist nicht wichtig. Er war wirklich noch sehr jung. Er steckte in seiner Felduniform, wie Jungs ihre strapazierfähige Kleidung tragen, wie ein Prinz; diese unbekümmerte, nachlässige und dabei doch natürlich vornehme Art, die aus dem Glanz eines stolzen, fröhlichen Körpers kommt, auch wenn er voller Schlamm ist.
Auf dem Foto sieht die Uniform sauber aus, wenigstens einigermaßen, aber die Stiefel waren bis zu den Gamaschen voller Schlamm. Er schaute zum Fotoapparat hin, seinen Kopf leicht geneigt, als wollte er ein besseres Licht finden, und lächelte. Dabei entblößte er strahlend weiße Zähne. Eine Hand hatte er am Gürtel mit den Patronentaschen, während er in den Fingern der anderen Hand eine Zigarette hielt. Auf sonderbare Weise, als wäre sie explosiv und müsste mit Vorsicht behandelt werden. Er hatte die Augen eines Jungen, und ich hoffe, dass meine in seinem Alter genauso waren. Die Augen eines Mannes, auch des unbefangensten, sind immer etwas trübe, die eines Jungen sind klar. Es gibt Jungen, die gezwungen sind, mit zwölf Jahren ein Mann zu werden, er hatte im Herbst ’44 noch leuchtende Augen; und er war schon achtzehn, und ein Jahr zuvor war er in den Krieg gezogen. Hinter dem Rücken meines Vaters war das unscharfe Profil von etwas, was wie ein Kind aussah; die Duse sagte mir, das sei die Santarellina. Die Santarellina ließ ihre Freundin tendenziell nie allein, außer, so glaube ich, wenn sie mit meinem Vater auf Äpfelsuche ging. Auf dem Foto kann man es nicht erkennen, doch wahrscheinlich hat sie auch hier ihren Beutel mit der Sichel dabei.
Wie kann ich mich nach fünfzig Jahren an all diese ganzen Einzelheiten erinnern? Das ist einfach: Auf diesem Foto ist alles, was ich von
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