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Himmelsmechanik (German Edition)

Himmelsmechanik (German Edition)

Titel: Himmelsmechanik (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio Maggiani
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würden, um Gerechtigkeit und Frömmigkeit in die Welt zu tragen, beschämte er jeden Abend seine Vorfahren und bemitleidete ihre Schwäche.
    Chico schien es, dass der Alte sehr zufrieden mit seiner Buße war, und als er vor ein paar Jahren so blind wurde, dass er nicht mehr lesen konnte, hatte er nur unter großem Bedauern zugestimmt, dass die Buße von Chico selbst durchgeführt würde. Der sie nicht nur lesen konnte, sondern auch singen, wenn er Lust dazu hatte. Und Herr Welles unterstreicht zweimal
sing it
.
    Als er sie also jeden Abend außer dem Freitag der Stille las, fand er heraus, dass ihm die Geschichte nun auf andere Weise gefiel. Er begriff andere Dinge und entdeckte jedes Mal neue, als wäre es eine größere Sache, ein Wort zu sehen, als es zu hören. So sah er sich an einem bestimmten Punkt mit dem Wort »blau« konfrontiert, weil das griechische Meer eben blau ist. Er hatte das schon viele Male in der Stimme des Alten gehört, und vielleicht hatte er nicht darauf geachtet, denn als er diese Farbe dort vor seinen Augen hatte, hatte er plötzlich entdeckt, dass er nicht wusste, was das war. Er wusste nicht, von welcher Farbe das blaue Meer war, und es war sicher, dass es sich um etwas Außergewöhnliches und Seltenes handelte. Er hatte es noch nie gesehen, und vor allem konnte er es sich nicht vorstellen, wie es sein könnte. Was dem Gedanken an das Meer, das er sich vorstellen konnte, am nächsten kam, war der Fluss, und im Ort, in dem er lebte, keine Tagesfahrt mit der Piroge vom Zusammenfluss des Rio Tapajós mit dem Amazonas entfernt, konnte der Fluss wie ein Meer aussehen, doch sein Wasser war nie auch nur annähernd blau. Es war grün, es war grau, es war braun; je nach Jahreszeit war es smaragdgrün und fast schwarz, in der Farbe der Platanenblätter oder in der Farbe der Rinde des Brotbaums, aber gewiss nicht blau. Niemals.
    Er hatte den Alten gebeten, es ihm zu erklären, aber der Alte wusste auch nicht, was er sagen sollte. Er sagte ihm, er könne sich inzwischen nicht mehr genau an das Blau erinnern: Es sei nun schon ein Jahrhundert vergangen, dass er den Ozean überquert hatte, und auch wenn er vom Anfang bis zum Ende ganz blau gewesen wäre, so wüsste er nicht mehr, wie er es sagen sollte. Er zweifelte aber, dass der Ozean so blau wie das griechische Meer sei, denn er hatte eine gewisse Erinnerung an ein Grau, das mal dunkler und mal heller war und ihm Übelkeit und eine fürchterliche Langeweile verursacht hatte. Und er wüsste nicht einmal, wie er ihm das Blau zeigen könnte, denn er fand in den Illustrationen seiner Bücher keinen Gegenstand in dieser Farbe, außer vielleicht den Mantel der Jungfrau Maria. Wobei er aber nicht versichern könne, dass es das Blau des Meeres sei und kein anderes Blau, denn wie alle anderen Dinge war der Mantel der Jungfrau Maria verblichen und hatte schließlich die Farbe des Amazonas angenommen. Es gab auch niemand anderen, der es ihm anstelle des Alten sagen konnte. Im Wald und entlang des Flusses hatte es die Farbe Blau noch nie gegeben; alle wurden geboren und wuchsen heran und starben, ohne diese Farbe jemals gesehen zu haben. Manchmal schien der Himmel so auszusehen, in kleinen Abschnitten und für kurze Zeit, nach einem Wolkenbruch, doch auch in diesem Fall hatte der Alte seine Zweifel vorgebracht. So erkundigte er sich weiter überall, um zu sehen, ob er mehr darüber herausfinden könnte, bevor er losfuhr. Und dieses Mal war er wirklich sicher gewesen, den richtigen Menschen getroffen zu haben, den griechischen Reisenden, der ihn aufklären und mit sich nehmen würde.
    Am Abend der großen Enthüllungen hat mir die Duse auch von dieser Geschichte vom blauen griechischen Meer erzählt. Und sie hat dazu noch gesagt, dass mein Vater die Geschichten seines Lebens erzählen konnte, als wären sie noch interessanter als die
Ilias
. Sie erzählte mir auch von der
Ilias
und ihren Helden und holte aus der Kommode das Buch, um es mir zu zeigen. Sie sagte, dass alles, was mein Vater von sich erzählte, so wahr zu sein schien, dass man geneigt war zu glauben, es wäre hier geschehen, irgendwo in der Nähe des Ponte, und nicht in einem so fernen Land, von dem man, bevor er gekommen war, nicht einmal gewusst hatte, dass es sich im Krieg befand.
    Nebenbei gesagt gab es diesen Schauspieler Orson Welles wirklich, und im Dorfkino zeigten sie bald einen Film von ihm; vielleicht würde sie mit mir hingehen, entfuhr ihr an jenem Abend, aber sie tat es nie, auch

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