Himmelsmechanik (German Edition)
nicht, als dort andere gezeigt wurden. Und sie sagte auch, dass mein Vater lachte, wenn er erzählte. Er lachte über alles, was ihm in seinem Leben zugestoßen war, sogar darüber, dass er hierher kam, um Krieg zu führen. Die Duse sagte mir, dass ein Mann, der lachen kann wie mein Vater, auf seine Weise ein Held ist, denn das Lachen ist Kraft und Mut. Sie verriet mir auch, dass er beim Lachen ein besonderes Vergnügen verspürte, weil er wunderschöne Zähne hatte und sie gern zeigte. Er rühmte sich seiner Zähne, obwohl sie nicht das Schönste waren, was er hatte: Am schönsten waren seine Augen, seine Haare und seine Hände, alles sehr zarte und unschuldige Dinge. Vielleicht waren seine Zähne nicht einmal alle gerade, erzählte die Duse weiter, aber mein Vater war der Überzeugung, sie seien die schönsten des ganzen brasilianischen Expeditionskorps, angesichts der Tatsache, dass seine Kameraden meistens keine Zähne hatten. Und er lachte auch darüber, über die Tatsache, dass die Militärärzte nicht genau darauf geachtet hatten, als es darum ging, junge Leute anzuwerben, um Europa zu retten; und er lachte, wie ihre Generäle, gerade in Neapel gelandet, vor dem Alliierten Oberkommando Schlange standen, um Waffen und Kanonen zu fordern, während die Soldaten vor der Krankenstation anstanden, um Zahnärzte und Zahnprothesen zu verlangen. Er lachte auch, als er ihr erzählte, sein ganzes Leben lang nie etwas anderes ersehnt zu haben, als zu sehen, wie blau das griechische Meer sei. Dass es ihm nie wichtig gewesen sei, zu seiner Familie zurückzukehren und er auch nie darunter gelitten habe, dass ihn nie jemand beim Pfarrer abholen gekommen war.
Und so hat mir die Duse erklärt, was der Traum eines Menschen ist. Ein Mensch träumt, wenn er größer ist als das, was er tut, das wollte sie mir beibringen. Der Traum eines Menschen ist all das, was er sein könnte, wenn es ihm gelänge, nicht mehr Sklave der Umstände zu sein. Ihr zufolge ist mein Vater nie Sklave von etwas gewesen, auch nicht, wenn er den Befehlen seines Kommandanten Folge leisten musste, der immerhin wohl ein guter Mensch war, denn bis zur Weihnachtsoffensive gab es in den Küchen seiner Kompaniefeldwebel für den ganzen Ponte Milch mit Kakao zum Frühstück.
Der Duse zufolge ist mein Vater nur Sklave seines Traums gewesen. Und das nennt man nicht Sklaverei, das nennt man Leidenschaft. Die Leidenschaft ist das Einzige, für das ihr meine Seele zu klein erschien, um mit mir darüber zu sprechen; und sie hätte am liebsten nie mit mir darüber gesprochen, denn sie hatte zu viele Männer von der Leidenschaft als Unglück sprechen hören. Ich müsste schon allein mit der Leidenschaft zurechtkommen, falls sie mich jemals aufsuchen würde.
Sie ist gekommen, und ich habe mir allein beholfen; als sie sich bemerkbar machte, konnte ich sie nicht von der Sklaverei unterscheiden, und ich habe sie nicht einmal rechtzeitig als das aus meinem Traum geborene Geschöpf erkennen können. Ich bin kein leidenschaftlicher Mensch, nicht in dem Sinne, wie es mein Vater war. Wenn ich eine Leidenschaft habe, dann habe ich sie dressiert, hinter mir herzukommen, und mit der Zeit hat sie es so gut gelernt, das ich nicht einmal mehr die Leine benutzen muss; wenn ich einen Traum habe, lebe ich dafür, anstatt daran zu sterben. Der Traum meines Vaters hat ihn schließlich auf die Pania gebracht und ihm Flügel verliehen, um im blauen Meer der Versilia zu zerschellen; und um rechtzeitig bis dort hinaufzukommen, um noch die Kraft zu einem Anlauf zu haben, musste er sein ganzes Leben lang schnell gehen und alles zurücklassen, was seinen Schritt hätte verlangsamen können. Einschließlich seiner Frau, einschließlich seiner Frauen, einschließlich des Verfassers. Alexander der Große hat es bekanntlich nie bereut, eine ganze Generation mutiger Soldaten verschlissen zu haben, nur um sich rechtzeitig mit seinem Traum zu vereinigen, und es heißt, er sei mit der
Ilias
in den Händen gestorben. Ich kann mir gut vorstellen, dass mein Vater eine Ausgabe mit in den Krieg genommen hatte, und so abgenutzt sie auch sein mochte, war sie doch noch gut genug, als er einen letzten Blick hineinwarf, sie sich unter sein Hemd steckte und mit ihr von der Pania hinuntersprang. Vielleicht war es noch diejenige, die er im Haus des Pfarrers am Amazonas gelesen hatte. Oder womöglich war die
Ilias
vom Amazonas das Buch, das mir meine Mutter gezeigt hatte; ich wüsste es nicht, denn ich habe es nicht
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