Himmelsschwingen
sie so besser sehen. Hinter ihnen reihten sich prachtvolle Gebäude, vor ihnen war der Fluss rege befahren, obwohl es noch nicht Zeit war, die Brücken hochzuziehen, um den größeren Transportschiffen Durchfahrt zu gewähren. Stolze Binnenkapitäne lenkten ihre weißen Boote, in der Ferne glitten die Masten eines Segelschiffs vorüber, und von links näherte sich eine flache Barkasse, die Touristen von einem Tagesausflug durch die Kanäle und über den Fluss zurückbrachte.
Nachher konnte Iris nicht mehr sagen, wie lange sie dagestanden und über das Wasser gesehen hatten. Schulter an Schulter, den Blick in entgegengesetzte Richtungen gerichtet. Erst mit gebührendem Abstand, irgendwann aneinander gelehnt, Halt suchend und gleichsam wortlos. Die Berührung ihrer Körper und Seelen tröstlich und wagemutig zugleich.
»Lass uns …« Ihre Stimme klang eigenartig unbenutzt, und sie räusperte sich. »Siehst du das Schiff dort drüben? Darin befindet sich ein netter Club. Lass uns hinübergehen und etwas trinken.« Nur kurz sah sie dabei auf seine Hände. Obwohl er wahrscheinlich ahnte, dass Iris das leichte Zittern nicht entgangen war, steckte er sie tief in seine Hosentaschen und murmelte etwas Zustimmendes.
Am Anleger angekommen, begleitete er sie aufmerksam über die schwankende Gangway zum Schiff, öffnete die Tür und ging dann voran. Der vollendete Gentleman. Nur seine Haltung verriet den Soldaten in ihm. Sie wurden ausgesucht höflich begrüßt und zu einem Tisch am Fenster begleitet, von dem aus sie einen wunderbaren Blick auf die Newa und das in hellviolettes Licht getauchte Ufer hatten.
Iris bestellte Wein, und als sich der Kellner zurückzog, hob sie ihr Glas. »Auf den edlen Ritter, der mich auf dem Schlachtfeld der Straße gerettet hat!« Ernsthafter fügte sie hinzu: »Danke.« Die höfliche Floskel »Das wäre nicht nötig gewesen« verschluckte sie gerade noch rechtzeitig.
Nachdem sie einen kleinen Schluck getrunken hatte, wies sie auf sein geleertes Glas. »Du verwechselst da etwas. Es heißt zwar, dass man Champagner kippen und nicht nippen soll. Bei Wein, zumal einem wie diesem, verhält es sich aber genau andersherum.«
»Wirklich? Und wer sagt das?« Samjiel füllte sein Glas bis zum Rand, prostete ihr mit einer ironischen Verbeugung zu und leerte auch dieses in einem Zug. Danach lehnte er sich mit vor dem flachen Bauch verschränkten Händen zurück.
Vom Nebentisch war ein erstickter Laut zu hören, eine Frauenstimme verlieh ihrer Empörung in gezischtem Italienisch recht deutlich Ausdruck.
Der exklusive Club stand in dem Ruf, nur handverlesene Gäste zuzulassen. Dazu gehörten zweifellos Touristen, die sich die Preise leisten konnten, und natürlich wohlhabende Russen. Iris bezweifelte, dass die einheimische Klientel immer großen Wert auf Etikette legte, aber an diesem Abend saßen nur ausländische Gäste in ihren ledernen Sesseln und genossen das Gefühl, etwas Besonderes zu erleben. Da war ein Banause, als der sich Samjiel ihnen zweifellos offenbart hatte, natürlich nicht willkommen. Obwohl sie ahnte, dass nicht der Wunsch zu provozieren, sondern seine offenkundige Unfähigkeit, maßvoll mit Alkohol umzugehen, an dem einigermaßen schockierenden Verhalten schuld war, setzte sie sich auf, nahm die Schultern zurück, öffnete die Knöpfe und streifte das Jäckchen ab, das ihrem luftigen Kleid ein elegantes Aussehen verliehen hatte. Zum Vorschein kam, vom zarten Stoff und den fadendünnen Trägern kaum verdeckt, die ganze Pracht ihrer Tätowierungen. Ein kollektives Raunen erhob sich, der Kellner war sofort zur Stelle. »Madame …«
Iris zog ein schwarzes Kärtchen aus der Tasche und drückte es ihm in die Hand. »Wir hätten davon gern noch eine Flasche, dazu Speyside Wasser und etwas Fingerfood, vegetarisch, wenn es nicht zu viele Umstände macht.«
»Sehr wohl!« Wenig später wurde ihnen eine Auswahl erlesener Leckereien »mit den besten Wünschen des Hauses« serviert. Die Unruhe legte sich allmählich.
»Wahrscheinlich halten sie uns für Rockstars.« Iris lachte leise. »Das heißt, du kannst jetzt saufen, so viel du willst.«
Samjiel, der im Begriff gewesen war, sein Glas erneut zu füllen, erstarrte. »Du glaubst, ich habe hiermit ein Problem?« Behutsam stellte er die Flasche zurück.
»Sagen wir mal so: Bevor du im Gateway fast vom Stuhl gekippt bist, habe ich noch nie einen derart betrunkenen Engel gesehen.«
»Also das …«, setzte er zu einer Erklärung an.
Iris
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