Himmelsschwingen
hinter Iris, bis er sie fast berührte. Mit einer Hand am Türrahmen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, beugte er sich vor und versuchte zu erkennen, was auf der Probebühne geschah.
Das Klavierspiel brach ab, jemand schien Instruktionen zu geben. Allzu gnädig klang die Stimme nicht. Samjiel wusste, dass sich der Sprecher auf ihrer Seite des Raums befand – sehen konnte er nur eine ältere Frau und das dunkle Klavier, das sie liebevoll mit einem Tuch polierte. Das Instrument hatte schon bessere Tage erlebt und konnte die Zuwendung durchaus vertragen.
»Es geht weiter.« Der Instrukteur sprach mit einem Zischton, der seinen Worten etwas Nervöses, geradezu Feindliches gab, und darum war es nicht verwunderlich, dass die Musikerin schnell auf ihren Schemel zurückkehrte, kurz verharrte und dann, offenbar auf sein Zeichen hin, zu spielen begann. »Und eins und …! Miljena? Wo bist du mit deinen Gedanken?« Die Pianistin unterbrach sofort, sah auf, nickte und spielte die Passage erneut.
»Und eins und zwei …!«
Auf einmal schwebte ein elfenähnliches Wesen über den abgenutzten Boden. Nur das dumpfe Klopfen ihrer Tanzschuhe bewies, dass die Tänzerin ihn überhaupt berührte. Sie war ein Mensch aus Fleisch und Blut, aber das hätte man angesichts der Leichtigkeit ihres Tanzes nicht glauben mögen. Mit fließenden, zugleich kraftvoll den Raum durchmessenden Sprüngen und Schritten und äußerster Körperbeherrschung wiegte sie sich im Strom der Melodie. Der junge Tänzer an ihrer Seite agierte als kraftvoller Souffleur ihrer Anmut. Gemeinsam zeichneten sie ein Bild kühler Erotik, gleichsam wie ein Pas de deux sich in der Strömung einsamer Fjorde wiegender Wasserpflanzen. Im Gegensatz dazu spürte er die Wärme eines anderen Körpers, die, ohne dass er begriff, was geschah, auf ihn übersprang, bis seine Wangen brannten. Rasch wandte er sich ab, während Iris die Tür leise schloss und ohne sich nach ihm umzudrehen zur Treppe zurückkehrte, als hätte ihre flüchtige Berührung sie ebenso aufgewühlt wie ihn.
Benommen folgte er ihr und fragte sich, warum sie ihn hierhergeführt hatte. Die Tänzerin kannte er. Bei dem Mädchen, das am Nachmittag dem kleinen Taschendieb außerordentlich geschickt zur Flucht verholfen hatte, handelte es sich tatsächlich umseinen Auftrag , wie die Wächterin ganz richtig vermutete. Und ebenfalls zu Recht nahm sie an, dass er sich nicht für das Leben derjenigen interessierte, die er ins Jenseits beförderte. Und natürlich hielt sie dies für einen unverzeihlichen Fehler.
Was ein Ballett war, wusste er, und ihm war auch bekannt, dass die Menschen es darin zu großer Meisterschaft gebracht hatten, aber mit eigenen Augen gesehen hatte er einen solchen Tanz noch nie. Weshalb sollte er dafür Zeit verschwenden? Dämonen, mit denen er es zumeist zu tun hatte, wenn er sich in dieser Welt bewegte, tanzten nicht, und die einzigen Emotionen, die sie ihrem Henker zeigten, vergifteten die Luft mit Niedertracht und Hass.
Als das Rauschen in seinen Ohren, das mit der unnatürlichen Wärme gekommen war, nachließ, hörte er jemanden singen. Die klaren Töne erklommen scheinbar mühelos schwindelnde Höhen, und doch brach die Sopranistin immer wieder ab, setzte neu an, um sich zu korrigieren. »Nein, nein!« Eine Frauenstimme unterbrach die Übung ungeduldig, erhob die eigene Stimme und macht vor, was sie von ihrer Schülerin erwartete.
Samjiel blieb stehen und lauschte. »Ein Engel?«, fragte er schließlich leise und gab sich gleich selbst die Antwort. »Eine Gefallene. Sie unterrichtet Gesang?«
»Warum nicht? Von irgendwas müssen sie ja leben. Kostenlose Verpflegung gibt es nur bei uns. Weder hier auf der Erde noch im Hades darf man darauf hoffen, eine Brotkrume umsonst zu bekommen.« Die Hände in die Hüften gestemmt, stand Iris vor ihm. In ihren Augen wirbelte ein bunter Sturm, der verriet, wie sehr sie ihn für seine Ignoranz verachtete. Obwohl er kräftiger war als sie und der erfahrenere Krieger, hätte er in diesem Augenblick gern mehr Abstand zwischen sich und die aufgebrachte Wächterin gebracht.
Ändern würde ihr Engagement nichts, obwohl er es zu schätzen wusste, dass sie sich derartig vehement für ihre Überzeugungen einsetzte.
Samjiel fühlte sich unwohl. »Komm schon, es kann nicht ernsthaft wichtig sein, wie die Gefallenen ihr Leben organisieren. Du weißt ebenso wie ich, dass es gute Gründe gibt, warum sie ihren Status verloren haben.« Ohne auf Iris’
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