Himmelsschwingen
Gartenlaube, wie sie einst im Hinterhof gestanden haben mochte, das nun einem vergessenen Spielzeug glich. Es war erstaunlich gut in Schuss, wie es so zwischen all den baufälligen Riesen mit ihren vier oder fünf Etagen stand.
Noch immer lauerte der fremde Wagen im gelben Licht der Straßenlaterne, das vor dem sanften Rosé des Himmels, den die dahineilenden Wolken allmählich freigaben, irgendwie unpassend wirkte. Die wenigen Passanten, die an diesem endlosen Abend des Wegs kamen, wechselten die Straßenseite, als wünschten sie nicht mit hineingezogen zu werden in eine Angelegenheit, von der sie nichts wussten und auch nichts wissen wollten.
Eine Zeit lang blieb alles ruhig. Dann flog die Beifahrertür auf. Ein Mann sprang heraus und ging, während der Fahrer keinerlei Anstalten machte, ihm zu folgen, den Pfad entlang, den man erst bei genauerem Hinsehen entdeckte und der sich um die Mauerreste bis zum Häuschen schlängelte. Aus der Art, wie er den kurzen Weg zurücklegte, konnte man schließen, dass er ihn nicht zum ersten Mal ging. Ein Fremder wäre in dem verbliebenen Zwielicht nicht so zielstrebig vorangeschritten.
Augenscheinlich wurde er erwartet. Die Tür öffnete sich, bevor er sie erreicht hatte. Die schmale Gestalt, die den Rahmen nicht annähernd ausfüllte, machte durch ihre Körperhaltung unmissverständlich klar, dass sie ihn nicht hereinbitten würde. Man sprach kein Wort, als wäre ihre Begegnung Teil eines altbekannten Rituals. Der Mann steckte etwas ein, das wie ein Umschlag aussah, drehte sich grußlos um und stieg wenig später in das schwarz glänzende Gefährt, das sich in Bewegung setzte, bevor die Wagentür vollständig geschlossen war.
Viel interessanter als die dunkle Limousine allerdings war das Mädchen, das halb verborgen noch immer im Hauseingang stand, plötzlich zusammenzuckte und hinauf in die Wolken sah, als habe sie dort etwas Beunruhigendes bemerkt. Nach einerWeile rieb sie sich über die Augen und schüttelte den Kopf, wie man es manchmal tut, um unliebsame Gedanken loszuwerden. Sie hatte einen langen Tag hinter sich, und bald würde auch ihre Mutter nach Hause kommen. Unvermittelt drehte sie sich um und tauchte in die Schatten ein, die sich zwischen den Häusern niedergelassen hatten.
Auf der anderen Seite der Brache lehnte ein windschie fer Bretterverschlag an brüchigen Mauerresten, und als der Wagen fort war, sah man eine kleine Hand die schmutzige Plane beiseiteschieben.
Die Krankheit schmerzlichen Verlangens hatte von ihm Besitz ergriffen, davon war Samjiel nach dem kurzen Ausflug mehr denn je überzeugt. Er hatte niemals das Paradies betreten, war nicht in einem Leib herangereift wie viele andere himmlische Geschöpfe, die einst Menschen und damit sterblich gewesen waren. Samjiel war am Anbeginn der Zeit erschaffen worden. So jedenfalls hatte man es ihn gelehrt. Erinnern konnte er sich nicht. Die Vergangenheit bedeutete ihm nichts. Wichtig waren das Sein, die Balance der Elemente und der Kampf gegen die Extreme, gegen das Chaos.
Was ist das Chaos, General? Und wo kommt es her? , hatte ihn erst kürzlich ein Rekrut aus den Reihen der Sterblichen gefragt, und ihm lag bereits die schroffe Entgegnung auf den Lippen, der junge Engel solle Befehle ausführen, statt über die Beschaffenheit der Welt nachzudenken, als er sich besann und ihm die Erklärung anbot, die er selbst einmal auf eine ähnliche Frage erhalten hatte.
Damals war ihr oberster Feldherr Michael anders gewesen, nicht weniger streng und Furcht einflößend, das nicht. Eher auf eine schwierig zu erläuternde Weise zugängli cher. Samjiel erinnerte sich noch genau an die Worte, die irgendwann zu seinem Credo geworden waren. Das Chaos lauert in den Tiefen der Unterwelt, wie ein wilder Drache am Boden der Schlucht, der nur darauf wartet, uns zu verschlingen. Wir müssen es bekämpfen, wo wir es antreffen. Denn es hat nur einen Zweck: die Ordnung zu verdrängen und die Schöpfung in ewiges Dunkel zu zerren.
Damals allerdings hätte er gern gefragt, warum Luzifer, der Lichtbringer, der strahlende Engel, dem niemand ins Gesicht sehen konnte, ohne darin seine eigene Unzulänglichkeit zu erblicken, warum der, der alles besaß, das Chaos gewählt, Discordia gefreit, sich gegen die Harmonie und für die Zwietracht entschieden hatte.
Michael, der geahnt haben mochte, dass sein treuer Diener nicht ohne eigene Gedanken war und deshalb mehr hatte wissen wollen, als er ihm anbot – Michael wies ihn an, die
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