Himmelsspitz
Herzen unendlich kummervolles Verlangen.
Bis zu jenem Tag.
»Picknick an einem Ort, an dem man die weite Welt riechen und spüren kann. Was halten Sie von dieser Idee?«, hatte er vorgeschlagen.
»Oh fein!«, hatte sie geantwortet. Nach der Arbeit war Isabel schnell nach Hause geeilt und hatte einen Korb mit selbstgebackenem Haferflockenkuchen und einer Kanne Tee gepackt.
»Wir müssen allerdings durch ein Fenster klettern«, hatte er hinzugefügt: »So ganz erlaubt ist das nicht.«
»Ein verbotener Ort? Wie faszinierend!«
»Abends ja, tagsüber nicht, zumindest nicht für mich. Ich arbeite nämlich dort.«
»Ah, Picknick im Büro? Oder in einer Werkstatt?«, hatte sie frohlockt.
»Lassen Sie sich einfach überraschen. Ich hole Sie um acht Uhr zu Hause ab.«
Er war pünktlich. Sie gingen ungefähr eine halbe Stunde. Er hatte den Weg in Richtung Hafen eingeschlagen.
»Ich verstehe«, sagte Isabel. »Die Schiffe, die großen Frachter. Wir picknicken am Kai.«
Er schmunzelte und schüttelte den Kopf. »Abwarten.«
Als sie die Kehrwiederspitze sah, wurde Isabel allmählich klar, wohin Julius sie führen wollte. Sein Ziel war jener Teil der Stadt, in dem das Löschgut der Schiffe auf seine neue Bestimmung wartete. Alte Hallen aus Ziegel, enge Torbögen, große Fenster. Picknick in der Speicherstadt.
Sie gingen durch drei Innenhöfe, vorbei an ein paar Containern, bis sie vor einem hohen Stoß Holzpaletten standen.
»Geben Sie mir Ihre Hand«, forderte er sie auf. »Wir müssen über den Holzstoß nach oben klettern.« Sie gelangten auf ein Vordach. Von dort aus ließ sich ein Fenster öffnen. Er holte eine Taschenlampe aus der Jackentasche und leuchtete in das Dunkel. »Die Luft ist rein.«
Sie krochen durch den Spalt in die Lagerhalle und landeten auf einem Berg Säcke. Julius breitete die Arme aus und drehte sich im Kreis: »Willkommen in der weiten Welt.«
Ja, sie war tatsächlich in der Ferne angelangt, in einer köstlichen Ferne, denn sie befand sich in einer Lagerhalle voller exotischer Gewürze. Die Luft war geschwängert von feinstem Duft. Julius nahm Isabel an der Hand und führte sie im Schein der Lampe von einem wohlriechenden Berg zum anderen.
»Die Düfte der Welt«, sagte er. »Jeder Sack riecht anders. Der hier kommt aus Indien, Pfeffer. Riechen Sie, hier lagert roter Pfeffer und gleich daneben der schwarze. Auch dieser Sack hat eine lange Reise hinter sich. Vanille aus Madagaskar. Die Zimtstangen kommen aus Ceylon.«
Wie die Bienen von Blume zu Blume huschten sie von Gewürz zu Gewürz, schnupperten abwechselnd Anis, Kardamom und Muskat.
Irgendwann kamen sie zur Ruhe und ließen sich auf einem Nelkensack nieder.
Der Mond schien durch die großen Fenster, in seinem Schein tanzte feiner Staub. Vom Hafen drangen die Töne von Schiffshörnern. Ansonsten herrschte Stille. Isabel lehnte sich nach hinten und schloss die Augen.
»Oh Gott, wie es duftet. Ich stell mir vor, ich bin in einem Märchen von tausendundeiner Nacht. Ich sitze auf einem fliegenden Teppich. Ganz hoch oben. Unter mir sind all die fernen Länder, Arabien, Afrika, Indien. Ich trage schöne Kleider, und überall duftet es nach Parfum.«
Auf einmal spürte sie seine Lippen. Sie wagte nicht, die Augen zu öffnen. Er küsste sie lange und zärtlich. Seine Hände glitten unter die Bluse, unter den Büstenhalter. Überall spürte sie ihn, wie er ihren Rock hochschob, sie allmählich auskleidete, ohne seine Lippen von den ihren zu lösen. Dann spürte sie ihn, wie er langsam in sie drang.
Feucht, heiß und mit pochendem Herzen lagen sie später im fahlen Licht. Lange, sich liebkosend, und ohne Worte. Irgendwann öffnete Isabel die Augen und sagte:
»Ich bekomme Hunger, lass uns picknicken.«
Schwitzend kroch Isabel unter ihrer Decke hervor, die Sonne war inzwischen weitergewandert, hinter ihr die Zimmerwand entlang, und beschien eine der schrecklichen Zimmerdekorationen, die Isabels Vermieterin, Frau Würth, an die Wand gehängt hatte: ein kreisrundes Korbgeflecht eigenwilliger Blattrispen. Das Taubenpaar war inzwischen fortgeflogen, nun saß es auf dem zerstörten Dachfirst der gegenüberliegenden Hausruine. Dort, wo Isabel lebte, hatte man die Spuren des alliierten Feuersturms von Gomorrha immer noch nicht restlos beseitigt.
Isabel stand auf, ging in die Küche, wo Frau Würth gerade das Mittagessen zubereitete.
»Ah, die Dame ist aufgestanden? Guten Morgen. Ich hoffe doch sehr, dass Sie die Nacht allein verbracht
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