Himmelsstürmer: Mein Leben im freien Fall (German Edition)
kommen: Wer würde mich in Empfang nehmen? Ein Securitymann? Ein Firmenchef ? Würde mich jemand ansprechen? Zum Glück erwartete mich niemand, als sich die Tür öffnete. Die Flure waren leer. Die letzten paar Stockwerke schienen nicht vermietet zu sein. Vermutlich waren die Büros hier oben die teuersten. Mein Glück, denn so konnte ich mich dort halbwegs ungezwungen bewegen.
Am Ende des Flurs auf dem obersten Stockwerk erreichte ich eine Glastür, die sich nicht öffnen ließ. Mir blieb nur noch der Weg über die Feuertreppe, die sich hinter einer der Türen verbergen musste, an denen ich vorbeigelaufen war. Ich öffnete unzählige Türen, mal verbarg sich eine Elektrizitätszentrale mit Schaltkästen dahinter, mal ein Serverraum, mal eine Klimaanlage. Ganz am anderen Ende des Flurs führte eine schmale Treppe hinauf zu einer Art Luke – das musste der Zugang zum Dach sein! Kurz bevor ich die Luke öffnete, ahnte ich: Ich bin fast am Ziel, bei Kilometer 38 dieses Gaunermarathons. Wenn ich jetzt noch runtersprang und davonkam, ohne verhaftet zu werden, dann war ich der Mann, der vom höchsten Gebäude der Welt gesprungen ist. Red Bull würde wissen, dass sie aufs richtige Pferd gesetzt hatten, und wir könnten gleich die nächste Aktion planen. Der Weg bis zu dieser Luke war der pure Stress. Diese Selbstzweifel! Konnte das gut gehen? Als Geschäftsmann verkleidet da reinmarschieren: War das nicht zu viel Hollywood? So was gab’s doch nur im Kino.
Stimmt alles. Aber es hat trotzdem funktioniert. In den nächsten 15 Jahren habe ich immer wieder gemerkt: Manchmal läuft es im Leben wie im Film.
Die Leute glauben immer, der Sprung sei der größte Stress. Aber das Springen selbst stresst mich nicht, sondern immer nur die Angst vor dem Versagen. Angst zu sterben hatte ich auch in Kuala Lumpur keine, weil ich perfekt vorbereitet war. Ich hatte meinen Schirm selbst gepackt, war ausgebildeter Fallschirm- und Base-Springer. Ich war bereits Weltmeister, und nun schickte ich mich an, das höchste Gebäude der Welt zu erobern. Bis ein noch höheres Gebäude gebaut werden würde, würden sicher vier, fünf Jahre vergehen. Vier, fünf Jahre herrschte dann Ruhe, ähnlich wie bei der Olympiade. Da weißt du auch: Vier Jahre lang bin ich Olympiasieger. Erst danach würde ich mich wieder unter Beweis stellen müssen.
All das ging mir noch mal durch den Kopf, als ich in den Petronas Twin Towers die letzte Luke öffnete. Und wieder hatte ich keine Ahnung, was sich dahinter verbarg. Die Fensterputzer, die gerade Brotzeit machten? Darauf war ich vorbereitet: Ich hatte Geld dabei, ungefähr so viel, wie ein Fensterputzer in Malaysia im Jahr verdient. Selbst wenn sie trotz des Schmiergelds die Polizei riefen, bliebe mir noch genug Zeit zum Springen. Vorsichtig öffnete ich die Luke einen Spaltbreit und vergewisserte mich, dass niemand auf dem Dach stand. Ich spähte zum Kran hinüber und sah keinen Korb. Also hingen die Burschen gerade irgendwo weiter unten am Gebäude. Gut so.
Die ganze Zeit über hatte ich keine Funkverbindung zu meinen Kumpels am Boden gehabt. Ich wusste nicht, ob ich schon von der Polizei gesucht wurde oder meine Kameraleute verhaftet worden waren. Erst oben auf dem Kran konnten wir wieder Kontakt aufnehmen: »Es geht los, Leute!« Meinen Aktenkoffer ließ ich oben stehen, mit einer Nachricht für das Securitypersonal: »Danke für diesen Sprung!« stand auf dem Zettel, den ich kurz noch in die Kamera hielt. Eigentlich hatte ich überhaupt keine Lust zu filmen, wollte nur so schnell wie möglich springen. Ich musste einen Kompromiss finden und die wichtigsten Aufnahmen machen, ohne Zeit zu verplempern. Was brauchst du, um die Geschichte zu erzählen? Und was brauchst du, um ans Ziel zu kommen? Was ist zu viel? Was ist Luxus? Ich fand es extrem schwer, das richtige Verhältnis zu finden. Der Regisseur in mir sagte: »Hey, Felix, ich brauche diese Aufnahmen und diese Momente!« Zeitgleich maulte der Base-Springer: »Mann, verlier nicht zu viel Zeit mit der Filmerei. Vielleicht sind die Sicherheitsleute schon längst unterwegs!«
Mit der am Arm festgetapten Kamera und dem Schirm auf dem Rücken balancierte ich auf den Kran hinaus und hatte dabei auf den ersten vier, fünf Metern nur Gebäude unter mir. Ich hatte zwar einen Fallschirm, aber der brachte mir in dem Moment noch gar nichts. Der Pfeiler des Krans war zuerst schön breit, wurde weiter vorn aber immer schmaler. Vor mir konnte ich zudem eine Öllache
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