Himmelsstürmer: Mein Leben im freien Fall (German Edition)
war die ewige Packerei wert: Als wir zum ersten Mal beim Bridge Day gewesen waren, hatte mich Tracy vor all den anderen Profis meinen Schirm packen lassen, als absoluter Anfänger. Aber ich blieb entspannt und dachte mir: Denen zeige ich gleich mal, wie ich packen kann. Dieses Gefühl und diese Bestätigung danach! Ein Aha-Erlebnis. Normalerweise hätte ich Tracy gesagt: »Du, können wir nicht woanders packen? Die schauen ja alle zu!« Aber nein, stattdessen sagte ich mir: Nur weil die anderen schon oft gesprungen sind, heißt das noch lange nicht, dass sie gut packen. Dieses Gefühl wollte ich auch weiter haben: mich gut zu fühlen und zu sagen: »Jungs, ihr könnt mir gerne zuschauen, kein Problem.«
Auch die grausamen Videos, die Tracy mir gleich bei unserem ersten Treffen gezeigt hatte, schreckten mich nicht ab. Neunzig Prozent der Base-Springer, die er mir zeigte, waren bei einem ihrer Sprünge ums Leben gekommen. An ein Video erinnere ich mich noch besonders gut: Ein Typ springt vom Hilton in London, sein Schirm dreht sich, das nennt man »180er«, der Supergau beim Base-Springen. Es macht bumm , und du knallst in das Objekt, von dem du runterspringst, statt davon wegzufliegen, weil sich der Schirm so schnell dreht, dass du ihn nur schwer kontrollieren kannst. Viele Male ist der arme Kerl ins Gebäude geknallt, von Balkon zu Balkon. Er war schon bewusstlos – und krachte wieder rein. Als er unten ankam, war er tot. Das war sie, die dunkle Seite der Medaille. Mir war klar: Ich musste verdammt noch mal aufpassen und immer auf alles achten, damit mir so was nicht passierte.
Niki Lauda hat mir mal von seiner Zeit als Formel-1-Fahrer erzählt. Damals kam es noch vor, dass man als Fahrer nach einem Unfall auf der Rennstrecke anhielt und schaute, ob man helfen konnte. Vor ihm hatte es einen Rennfahrer in die Leitplanken geschleudert, und Niki sah, dass sich die Leitplanke durch den Fahrer gebohrt hatte. Sofort war klar, dass jede Hilfe zu spät kam. Wer damals in der Formel 1 einen schweren Unfall hatte, war tot oder verlor zumindest seine Beine, weil es noch keine Sicherheitscockpits gab. Für Lauda gab es nun zwei Möglichkeiten: »Entweder ich höre auf der Stelle auf, oder ich halte das Auto mit aller Macht auf der Strecke. Denn sonst ende ich so wie der Typ in der Leitplanke.« Das war das Bild, das er im Kopf mit sich trug. Für mich waren es die Videos von Tracy. Ich habe die Unfälle gesehen und mir gedacht: Davon muss ich mich fernhalten.
Ich glaube, dass erfolgreiche Sportler viele Gemeinsamkeiten haben. Laudas Konkurrent James Hunt hat zum Beispiel immer seinen Koffer gepackt, bevor er zum nächsten Rennen aufbrach. Das habe ich bei einigen meiner Sprünge auch gemacht. Alles zusammengepackt, mich in der Zimmertür noch mal umgedreht und gedacht: Hoffentlich komme ich in ein paar Stunden wieder. Und falls nicht, ist es besser, du hast den Koffer mit all deinen Sachen selbst gepackt. Diesen Job willst du keinem Freund zumuten, wenn es dich nicht mehr gibt.
Echte Todesangst hatte ich bisher nur auf der Jesus-Statue. Der erste Sprung von einer Felswand war auch stressig, mit all den wilden Geräuschen, die du hörst, wenn du mit 180 Sachen an einer Felswand entlangfliegst.
Für mich war das eine ganz wichtige Erfahrung. Man hat keine Ahnung, wie sehr man am Leben hängt, wenn man nie nahe dran war, es zu verlieren. Auch wer schwer krank ist und sterben will, merkt, wie sehr er am Leben hängt, will noch nicht weg sein, noch mal die Eltern sehen und die Freundin, will die Kinder groß werden sehen, einen Sonnentag genießen. Ich habe viele Freunde durchs Base-Springen verloren. Allesamt gute Base-Springer.
Ich empfand das Base-Springen wie eine immerwährende Prüfung, der ich mich freiwillig stellte. Ich begebe mich in Gefahr, komme aber aufgrund meiner Ausbildung, einer guten Vorbereitung und meiner Skills wieder aus ihr heraus. Geht ein unerfahrener Tourist bei Eis und Schnee auf einen 2000 Meter hohen Berg, ist er in höchster Gefahr und riskiert zu sterben, weil er das Equipment falsch gewählt und keine Erfahrung hat. Der erfahrene Alpinist geht auf einen Berg, der viermal so hoch ist, hat aber 20 Jahre Bergerfahrung und das richtige Material und ist im Vergleich nur minimal in Gefahr, etwa weil eine Lawine abgehen könnte, gegen die er nichts machen kann. Bei mir ist es ähnlich: Wenn ich springe, bin ich zwar in Gefahr, kann diese aber kalkulieren. Weil ich mich vorbereitet und trainiert habe,
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