Himmelsstürmer: Mein Leben im freien Fall (German Edition)
ausmachen, die von einer undichten Hydraulikleitung herrühren musste. Ich setzte mich hin. Ich wollte nicht auf den letzten zwei Metern stürzen und musste abwägen: Was ist jetzt machbar und was nicht? Vom Drehbuch her wäre es natürlich cooler gewesen, gehend weiterzubalancieren und dann abzuspringen und nicht die letzten Meter sitzend ans Ende des Krans zu rutschen. Aber wenn ich mit dem Schirm auf dem Rücken auf das Gebäude knallte, wäre ich der Verlierer schlechthin. So habe ich schon immer getickt. Einerseits dieses große Ego, das sich in Szene setzen will, andererseits das Bewusstsein dafür, mich im richtigen Moment zurückzuhalten und zu sagen: Hey, das wird jetzt zu viel. Das gefährdet deine Sicherheit.
Meine Kamerajungs funkten mich aus meinen Überlegungen. Sie hatten mich gesehen, als ich auf den Kran geklettert war. Mehr als eine Stunde hatte es gedauert von dem Moment, als ich im Gebäude verschwunden war, bis zu meinem Auftauchen auf dem Kran. Doch anstatt mich freudig zu begrüßen, äußerte der Fotograf Sonderwünsche: »Wenn du springst, kannst du den Schirm über der Verbindungsbrücke zwischen den zwei Türmen öffnen? Das wäre prima, weil das der charakteristische Teil des Gebäudes ist.« Na wunderbar, jetzt hatte ich es hier raufgeschafft, war so gut wie sprungbereit und sollte im freien Fall noch mit einem Auge schauen, wo die Brücke war. Jeder andere wäre schon froh gewesen, wenn sich der Schirm öffnet. Aber der Fotograf hatte recht: Es braucht immer die richtigen Bilder und Videos, damit die Geschichte rund ist. Genau das hat mich von Anfang an von den meisten anderen Base-Springern unterschieden: dass ich all das mitgeliefert habe. Das ist allerdings auch der Grund, warum es nie ein reines Vergnügen war: Weil ich jedes Mal so viele Aufträge erfüllen musste, dass der Sprung selbst vom Erlebniswert her viel zu kurz kam. Aber deswegen habe ich es auch so weit gebracht und kann nun davon leben.
Mit einem Adrenalinjunkie kann sich keine große Firma identifizieren. Sie will einen Profi, der zur Marke passt und die Anforderungen umsetzen kann, die an ihn gestellt werden. Das waren klare Richtlinien, die ich mir früh zu eigen gemacht habe. Mein Fernziel waren nicht zwanzig, sondern zwei, drei große Partner. Mit zwanzig Sponsoren wirst du zur Litfaßsäule. Keiner weiß mehr, wofür du wirklich stehst. Sportler, die zwanzig Sponsoren haben, sind entweder sehr begehrt, oder die Firmen zahlen so wenig, dass es zwanzig von ihnen braucht, um durchzukommen.
Ich sprang, öffnete meinen Schirm oberhalb der Brücke, und als ich unten landete, hörte ich schon die Trillerpfeifen der Securitymänner. Mein Eindruck war, dass sie gar nicht überrissen hatten, dass ich vom Gebäude gesprungen war. Sie dachten vermutlich, ich wäre ein Paraglider. Ich ließ mich hinter einem Bauzaun fallen und musste kurz verschnaufen. Erst einmal Adrenalin abbauen. Dann rief ich Thomas in Österreich an. Die Jungs zu Hause waren ja auf Stand-by und wussten: Entweder haben wir heute eine Riesengeschichte, eine Verhaftung oder einen toten Athleten. Es wussten vielleicht fünfzehn oder zwanzig Leute von der Geschichte. Das war damals alles noch sehr familiär, eine richtige Goldgräberzeit. Wir haben uns über jedes Nugget gefreut, das wir gefunden haben, und die Petronas Twin Towers waren zwei besonders große.
Anschließend ging ich zu Fuß zurück ins Marriott Hotel, in dem Tracy auf mich wartete. Den Schirm hatte ich zusammengerollt und in mein Stash Bag gestopft, einen kleinen Sack, den man auf dem Rücken tragen kann. Auch das hatte ich vorher geübt: In dem Moment, in dem der Schirm in sich zusammenfällt, gleich die Leinen nehmen, den Schirm einwickeln und kompakt unter den Arm klemmen, im Laufen das Stash Bag aus der Seitentasche nehmen, den Schirm reinstopfen, das Gurtzeug nachschieben – und schon bin ich nicht mehr als Base-Springer erkennbar, sondern lediglich ein Geschäftsmann mit einem Rucksack auf dem Rücken. Das Securitypersonal sucht derweil einen Fallschirmspringer mit Gurtzeug. Wenn stattdessen einer im Anzug ganz ruhig vorbeigeht, wird er höchstens gefragt: »Haben Sie einen Fallschirmspringer gesehen?« Und ich könnte sagen: »Ja, der ist gerade an mir vorbeigelaufen.«
Tarnen und täuschen: Das hat mich als Base-Springer immer beschäftigt. Sich wie ein Chamäleon unsichtbar machen oder in die unterschiedlichsten Rollen schlüpfen. Für das Petronas-Projekt hatte ich viele Ideen
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