Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Himmelsstürmer: Mein Leben im freien Fall (German Edition)

Himmelsstürmer: Mein Leben im freien Fall (German Edition)

Titel: Himmelsstürmer: Mein Leben im freien Fall (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Felix Baumgartner
Vom Netzwerk:
für »auf die Toilette gehen«.
    Nach wenigen Minuten sind wir auf Absprunghöhe und sogar darüber hinaus. Der Heliumballon ist zum Bersten voll und droht, zu platzen. Wir müssen Ballast in Form von Plastikkugeln abwerfen, was per Knopfdruck von der Kapsel aus oder unten von der Mission Control aus gesteuert werden kann. Wir müssen die richtige Balance finden: Wir wollen so hoch wie möglich rauf, denn: je höher du abspringst, desto größer ist die Chance, Überschall und noch schneller zu fliegen. Andererseits aber dürfen wir den Ballon nicht überstrapazieren. Der hat mittlerweile 850 000 Kubikmeter, der größte Heliumballon, der jemals mit einem Menschen an Bord geflogen worden ist – herkömmliche Heißluftballons mit acht, neun Passagieren haben nur 4000 Kubikmeter.
    Auf 38 964,4 Metern Höhe steht fest: Das reicht. Auch wenn 40 Kilometer eine schöne runde Zahl gewesen wäre. Joe und ich beginnen mit dem Egress-Check, dem Durchgang durch die letzte aller Checklisten: 42 Punkte trennen mich jetzt noch vom Sprung. Punkt für Punkt gehen Joe und ich die Liste durch, von der Druckregulierung des Anzugs, dem maximalen Beheizen der Hände und Füße vor dem Ausstieg in die Kälte, dem Aktivieren der Anzug- und Chest-Pack-Kameras über die zahlreichen Ventil- und Fallschirmchecks bis hin zum Herunterklappen des getönten Extravisiers, das meine Augen vor der extremen Sonneneinstrahlung in dieser Höhe schützen wird. Zahllose weitere Checks später passe ich den Druck in der Kapsel dem Außendruck an, damit sich die Tür unter den vakuumähnlichen Bedingungen öffnen lässt. Da mein Anzug unter maximalem Druck steht, ist meine Bewegungsfreiheit jetzt um 50 Prozent gemindert. Jeder noch so kleine Handgriff wird zur Tortur. Aber mir ist klar: Ich bin weit oberhalb der sogenannten Armstrong-Grenze, ohne den Schutz des Anzugs hätte ich innerhalb von 15 Sekunden Schaum vor dem Mund, mein Blut würde kochen, ich wäre sofort tot.
    Alles läuft nach Plan, aber als Joe mir das Signal gibt, die Tür zu öffnen, bewegt sie sich trotz der finalen Druckentlastung nicht aus ihrer Dichtung. Ich versuche mit meiner Hand den Griff zu umschließen, mit dem sie sich mechanisch öffnen lässt, doch aufgrund des Drucks in meinem Anzug kann ich meine Finger kaum einzeln bewegen. Ich bin schweißgebadet, als die Tür endlich nachgibt. Von oberhalb der Türöffnung rieselt Eis herunter. Es muss sich mit zunehmender Höhe gebildet haben. Ich aktiviere mein Chest Pack und entkoppele mich vom Onboard-Sauerstoff. Es bleibt mir jetzt noch Sauerstoff für circa zehn Minuten.
    Der Druckanzug ist nun von allen Kapselsystemen abgeschlossen. Unter höchster Anspannung schiebe ich den Sitz das letzte Stück nach vorn. Ich löse den Sicherheitsgurt und stemme meinen 150 Kilo schweren Körper mit einem unglaublichen Kraftakt durch die kleine Ausstiegsluke ins menschenfeindliche Nichts.
    Zum ersten Mal sehe ich die Krümmung der Erde, und der Himmel über mir ist bedrohlich schwarz und zugleich atemberaubend schön. In den 15 Sekunden, die ich auf der Stufe stehe, versuche ich mich optimal zu positionieren, noch ein paar Zentimeter nach vorn – dann bin ich bereit. Ich weiß, dass die ganze Welt zusieht, und ich wünschte, sie könnte sehen, was ich jetzt sehe. Über Funk sage ich: »Manchmal musst du weit hinaufgehen, um zu sehen, wie klein du eigentlich bist. I’m going home now«. Ich salutiere, mache einen Schritt nach vorn und falle.
    Das, was jetzt geschieht, entzieht sich meinem Einfluss. Jeder Fallschirmspringer arbeitet mit dem Element Luft, kann sie aufgrund seines Könnens im freien Fall beherrschen. Diese aber fehlt jetzt. In den nächsten 40 Sekunden kann ich nichts machen. Ich kann nur warten, muss in dieser gesteigerten Aufmerksamkeit verharren und abwarten, was passiert, um möglichst schnell auf das einwirken zu können, was kommt. Doch was kommt, weiß ich nicht, weil es keine Erfahrung im Überschallbereich gibt. Das Einzige, was ich weiß, ist, dass ich verdammt schnell bin und daher höllisch aufpassen muss.
    Es gibt nichts, was an mir vorbeizieht. Es fehlen die Orientierungspunkte, die mir zeigen, wie schnell ich genau bin. Die Luft macht nun ein ganz eigenartiges Geräusch. Ein abartiges Zischen. So etwas habe ich noch nie zuvor gehört. Vielleicht wird dieses Geräusch durch den Helm verursacht. Die ersten fünf, sechs, sieben Sekunden nach dem Absprung bin ich noch in einer aufrechten Position, Füße nach unten.

Weitere Kostenlose Bücher