Himmelsstürmer: Mein Leben im freien Fall (German Edition)
Allmählich kippe ich vornüber. Das hatte ich schon beim 22-Kilometer-Sprung und danach beim 30-er erlebt. Ich weiß, was kommt. Das ist Physik. Wenn der Schwerpunkt hoch ist, kann er nur nach unten wandern. Das geht nicht anders. Ich weiß, dass es diesmal länger dauern wird, bis ich meinen Fall irgendwie beeinflussen kann. Beim ersten Testsprung aus 22 Kilometern Höhe hat es 6 Sekunden gedauert, bis ich vornübergekippt bin. Du fliegst dann fast auf dem Rücken, siehst die Kapsel und den Riesenballon weit entfernt, dein einziger Referenzpunkt. Sonst ist ja nichts da. Beim zweiten Sprung aus 30 Kilometern hat es schon 15 Sekunden gedauert. Meine Drehungen werden schneller, 150 Kilo Gewicht, die zunehmend außer Kontrolle geraten. Und jetzt sind wir noch mal 9 Kilometer höher, das wird noch viel länger dauern. Und dann kippe ich auf einmal nach links weg und denke: Damn , was ist das jetzt?
Ich fange an, mich zu drehen. Fünfmal im Uhrzeigersinn. Intuitiv nehme ich die Hände zum Körper – dann geht es in die Gegenrichtung. Ich habe kein Gefühl, nirgends, weiß aber: Ich muss einen kühlen Kopf behalten und nach einer Lösung suchen.
Und schon überkommt mich wieder dieses analytische Denken, diese Fähigkeit, die ich im Verlauf der letzten 27 Jahre immer wieder bewiesen habe: in schwierigen, komplexen Situationen erst mal Ruhe zu bewahren. Ich weiß, ich bin schnell, sehr schnell, also muss ich alles, was ich jetzt mache, sehr langsam tun. Ich versuche, meine Arme und Beine richtig zu positionieren und brauche dazu all meine Fallschirm- und Base-Sprung-Erfahrung. In Panik bin ich nicht. Nur keine schnellen Bewegungen, sonst endet es fatal. Gleichzeitig ist mir klar: Ich darf auf keinen Fall schneller drehen als mit 3,6-facher Erdbeschleunigung. Wenn das 6 Sekunden lang passieren sollte, öffnet sich mein Stabilisierungsfallschirm, den Luke eigens für diesen Fall entwickelt hat. Bei dieser Belastung würde ich sonst irgendwann das Bewusstsein verlieren. Aber ich will ja noch keinen Rettungsfallschirm, ich will die Lösung selbst herbeiführen. Mein G-Messgerät sitzt am Handgelenk. Wenn ich es schaffe, das ein bisschen weiter am Körper zu halten, zeigt es weniger G an. Das ist extrem anspruchsvoll, aber meine einzige Chance
27 Rotationen später, nach allem Analysieren und Ausprobieren, bekomme ich das gefürchtete Flat Spinning abrupt unter Kontrolle und bin wieder Herr der Lage. Jetzt fliege ich es heim.
Obwohl mein Helmvisier wieder anfängt zu beschlagen, weiß ich, ich bin raus aus der Gefahrenzone und kann zur Not den Schirm öffnen. Die Erleichterung ist riesig. Ich habe keine Ahnung, ob ich Überschall geflogen bin, aber das Wichtigste ist jetzt: Ich habe es in den Griff gekriegt, mich mit eigenen Fähigkeiten wieder zu stabilisieren. Auf 5200 Fuß öffne ich den Schirm, 5000 war laut Protokoll geplant. Egal, ich habe es überlebt. Jetzt muss ich nur noch wissen, woher der Wind kommt und sicher landen.
*
Noch nie in meinem ganzen Springer-Leben habe ich über meine Landung nachgedacht. Für mich war das immer wie Einparken für geübte Autofahrer. Aber heute parke ich vor der ganzen Welt ein. Mit einem Mal habe ich Stress. Ich will stehend landen. Aber das ist gar nicht so einfach: Ich bin müde und ausgepowert und kann nicht spüren, wo genau der Wind herkommt. Und mit Rückenwind hat man da schnell 6 G beim Landen. Aber es funktioniert perfekt: zwei Schritte auslaufen, geschafft. Ich sinke auf die Knie und bin unendlich erleichtert. Die nächsten zehn Sekunden ist es mir völlig egal, ob ich Überschall geflogen bin oder nicht. Ich bin einfach nur froh, dass ich unten bin und nicht live vor meinen Freunden und Eltern versagt habe. Und noch viel wichtiger war es, nicht vor ihren Augen zu sterben.
Und da kommt auch schon der Helikopter. Mike Todd läuft auf mich zu und freut sich wie ein kleiner Junge. Ist das schön, ihn wiederzusehen, ihm in die Augen zu sehen! Mike ruft: »Hey, du hast es getan! Du hast es verdammt noch mal wirklich getan!« Erst jetzt bin ich mir selbst darüber im Klaren. Er nimmt mir den Helm ab, steckt die Kabel ab, strahlt über das ganze Gesicht. Und schon ist Colin mit seinen BBC -Jungs vor Ort und stellt die erste Frage. Ich kann mich später nicht daran erinnern, was genau er mich eigentlich gefragt hat. An meinem Landeplatz sind jede Menge Leute, die meinen Flug verfolgt haben. Sie erzählen mir nun alle, dass sie den Überschallknall gehört hätten. Ich sage:
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