Himmelssturz
Bella.«
Sie hörte nicht auf ihn, sondern legte die Hand unter Schropes glatt rasiertes Kinn. Sie versuchte seinen Kopf zu heben, damit sie ihm in die Augen sehen konnte. Doch er war starr wie eine Leiche.
»Ich habe einmal etwas Schlimmes zu dir gesagt, Craig. Du weißt, was ich meine. Ich habe mich entschuldigt … aber das war nicht genug. Ich möchte es noch einmal sagen. Ich möchte, dass du weißt, was du für ein feiner Kerl immer noch für mich bist. Du kannst jederzeit zu uns zurückkommen.«
Unter dem Druck, den sie ausübte, gab sein Kopf ein winziges Stück nach. Aber er sah sie nicht an. Sie ließ ihn los und stand auf.
Axford führte die Untersuchungen zügig durch – Blutwerte, Knochendichte, Strahlenbelastung. Abgesehen vom Kalziumabbau durch den ständigen Aufenthalt in der Mikrogravitation war Bella im Großen und Ganzen gesund. Sie trainierte regelmäßig in ihrer Kuppel, und sie legte Wert darauf, es auch an ihren schlechten Tagen zu tun. Vielleicht nahm sie sich dort irgendwann selbst das Leben, aber sie wollte es sich nicht von Janus nehmen lassen.
Sie hasste den Mond und wollte ihm kein Stück nachgeben.
Als sie fertig waren, zog sich Axford mit ihr in einen Nebenraum zurück und erzählte ihr von Jim Chisholm.
»Ich gebe ihm noch eine oder vielleicht zwei Wochen geistiger Klarheit. Das Glioblastom interferiert mit seinen normalen Hirnfunktionen. Es quetscht einige Areale zusammen und dringt in andere ein. Außerdem zieht es Blut und Nährstoffe ab. Er hat erhöhte arterielle und venöse Hypoxie. Sein Gehirn wird praktisch durch das Blastom ausgehungert. Stoffwechselendprodukte stören die normale Neurochemie. In den letzten sechs Monaten habe ich deutliche Konzentrationsdefizite beobachtet.«
»In welchen Bereichen?«, fragte sie.
Axford zählte es an den Fingern ab. »Sprache, Begriffsvermögen, räumliche Vorstellung – all das ist nicht mehr so gut ausgeprägt, wie es einmal war. Die Krämpfe werden schlimmer, und entsprechende Mittel verschaffen nur eingeschränkt Erleichterung.« Axford erhob sich von seinem Stuhl und versuchte eine optimistische Miene aufzusetzen. »Aber heute hat er einen guten Tag. Ich glaube, Jim weiß es. Deshalb hat Parry dich hergeholt.«
»Damit ich mich von Jim verabschieden kann?«
»Unter anderem.«
»Es überrascht mich, dass Svieta es erlaubt hat.«
»Jim wollte mit dir sprechen. Eine solche Bitte konnte sie ihm schlecht abschlagen.«
»Das muss für sie ein harter Brocken gewesen sein.«
»Sie hat Jim schon immer gemocht und respektiert. Sie hätte es sich ewig zum Vorwurf gemacht, wenn sie es abgelehnt hätte.«
»Mehr steckt nicht dahinter? Jim möchte mich nur noch ein letztes Mal sehen?«
»Das ist eine Sache zwischen Jim und dir«, sagte Axford.
Seit die Rockhopper auf Janus verankert worden war, hatte Axford seine medizinische Abteilung um einige angrenzende Räume erweitert. Bella vermutete, dass er in diesen Tagen mehr Patienten als zuvor hatte, nicht nur die Kinder und die schwangeren Frauen, sondern auch all die Leute, die mit Krankheiten zu ihm kamen, die andernfalls erst nach ihrer Rückkehr zur Erde behandelt worden wären. Jim Chisholm hatte er in einem eigenen Raum untergebracht, der mit Pflanzen und Bildern an den Wänden eingerichtet war. Hier war es sauber, aber es gab deutliche Abnutzungsspuren. Von den grünen Kacheln an Wänden und Decke waren Stücke abgebrochen, und auf dem Boden waren Flecken, die sich nicht mehr beseitigen ließen.
Eine Wand war mit Iridophoren übersät, durchbrochen von Sprenkeln aus toten Zellen, wie Schimmel auf Blättern. Ein Portal zum Schiffsnetz war geöffnet, auf beiden Seiten flankiert von einer Röntgenaufnahme oder Tomografie eines menschlichen Schädels im Querschnitt. Die Knochen, das Gewebe und die flüssigen Sekrete zeichneten sich in blassblauen Monochromtönen ab, eingeblendet waren Zahlen und Text in Weiß. Bella konnte den Tumor erkennen, der sich auf einer Seite des Gehirns ausgebreitet hatte wie ein Sturmtief im Golf von Mexiko. Er war um ein Drittel größer geworden, seit sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, und er wirkte irgendwie bösartiger.
Als sie eintraten, beugte sich Gayle Simmons über die Gestalt auf dem Bett und brachte eine beigefarbene Manschette an. Sie lag wie ein übergroßer Armreifen um Chisholms knochendürres Handgelenk.
»Ich gebe dir so viel Zeit, wie du brauchst«, sagte Axford, »aber pass auf, dass du ihn nicht übermäßig anstrengst.
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