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Himmelssturz

Himmelssturz

Titel: Himmelssturz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alastair Reynolds
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auf die Vertrautheit mit menschlichen Maßeinheiten hin.
    Aber das war noch nicht alles.
    Auf der sechsten Seitenfläche befand sich eine Gravur.
    Diese Seite drehte sich nun in Svetlanas Richtung. Durch irgendeinen Oberflächeneffekt hatten die fingerdicken Linien der Gravur eine höhere Albedo als die Grundfläche. Es handelte sich um Leonardo da Vincis Zeichnung eines Menschen innerhalb eines Kreises und eines Quadrats, eine der bekanntesten künstlerischen Darstellungen überhaupt. Sie war stilisiert, auf das Wesentliche reduziert, aber durchaus wiedererkennbar. Es schien unwahrscheinlich, dass ein außerirdischer Geist diesen Würfel geschaffen hatte.
    Das technische Team trug Schutzmasken, Handschuhe und Arztkittel, aber diese Vorsichtsmaßnahmen waren nur pro forma. Man hatte nichts gemessen, was Anlass zur Sorge gegeben hätte, dass der Würfel auf irgendeine Weise schädlich sein könnte. Er stand einfach nur da und rotierte langsam auf dem Gestell, präsentierte seine fünf leeren Seiten und dann die Zeichnung von Leonardo.
    »Du kannst ihn berühren, wenn du möchtest«, sagte Denis Nadis und reichte ihr ein Paar recycelbare Chirurgenhandschuhe, die mit einer haptischen Matrix beschichtet waren. »Wir alle haben es getan. Es ist fast so etwas wie ein Ritual. Irgendwie glaubt man einfach nicht, dass er wirklich existiert, bevor man seine Hand darauf gelegt hat.«
    Svetlana zog sich einen Handschuh an. »Was würde geschehen, wenn ich ihn mit der nackten Hand berührte?«
    »Du würdest richtig fette Fingerabdrücke hinterlassen. Einer von uns hat es bereits ausprobiert.«
    »Sie sind mit der Zeit verblasst«, sagte Christine Ofria-Gomberg. »Aber es war harmlos. Ich wollte nur wissen, wie sich das Material wirklich anfühlt.«
    »Die haptische Erfahrung hat dir nicht gereicht?«
    »Ich wollte es genau wissen. Was wäre, wenn es einen Unterschied gäbe, den die Handschuhe nicht übermitteln können?«
    »Und? Gab es einen?«, fragte Protsenko.
    »Nein«, sagte sie verdrießlich. »Es hat sich exakt genauso angefühlt.«
    Svetlana spürte ein Kribbeln in den Fingerspitzen, als die haptische Matrix mit mikroskopischen Fäden die Verbindung zu ihrer Haut herstellte. Sie strich über den groben Stoff ihrer Hose und spürte die Struktur, als wären die Handschuhe gar nicht vorhanden.
    Sie ging zum Würfel und berührte eine der langsam rotierenden leeren Flächen. Sie war kalt, fest und stumm. Sie fühlte sich uralt an, als hätte sie eine Ewigkeit auf diesen Moment des menschlichen Kontakts gewartet. Svetlana streifte mit den Fingern über die scharfe Kante, als der Würfel ihr die nächste Fläche präsentierte. Sie fragte sich – wie es zweifellos auch alle anderen taten –, wer dieses Ding in die Umlaufbahn um Janus gebracht hatte. Wie lautete die Botschaft des Objekts? Was sollten sie damit anfangen?
    Die nächste Fläche kam in Sicht. Sie hatte nur einen Handschuh angezogen. Sie schaute sich um und sah, dass sich Nadis, Protsenko und Ofria-Gomberg über einen Flextop gebeugt hatten. Alle blickten auf die Datenanzeige und nicht auf Svetlana. Ohne dass die anderen es sehen konnten, streckte sie die bloße Hand aus, um damit die eingravierte Darstellung zu berühren.
    »Svetlana«, rief Nadis. »Ich glaube, das solltest du dir ansehen.«
    Sie wandte sich vom Würfel ab und zog den Handschuh aus, bevor jemandem auffallen konnte, dass sie nur den einen getragen hatte.
    »Was gibt es?«, fragte sie unschuldig.
    »Das Tor«, sagte sie. »Es schließt sich.«
    Svetlana wurde klar, dass sie das Tor am Ende der Röhre meinte, zwei Lichtminuten von hier entfernt. »Ich wusste gar nicht, dass es offen war.«
    »Wir auch nicht«, sagte Nadis. »Es muss sich geöffnet haben, nachdem wir den zweiten Flugroboter verloren hatten, bevor wir die Schwebekamera nach oben geschossen haben.«
    »Das gefällt mir nicht«, sagte sie.
    »Dann wird dir etwas anderes noch viel weniger gefallen: Etwas ist hindurchgekommen.«

 
Neunzehn
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    Underhole war ein Fleck aus rötlichem Licht zwanzig Kilometer unter ihren Füßen. Wenn sie ihr Helmfernglas auf maximale Vergrößerung stellte, konnte Svetlana gerade noch die menschlichen Gestalten, Traktoren und provisorischen Kuppeln des kleinen Außenpostens erkennen. Dort unten war es in Wirklichkeit nicht sicherer, jedenfalls nicht auf lange Sicht, aber in diesem Moment hätte sie alles gegeben, nicht hier oben zu sein und auf der falschen Seite des Eisernen Himmels zu

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