Himmelssucher - Roman
Najat anwesend …«
»Und?«
»Und? Sie wird es überall herumerzählen. Mir würde nicht im Traum einfallen, dort aufzutauchen, wenn sie nicht da wäre. Sie hat sowieso schon ihre Zweifel.« Mina stockte. »Sie hat mich gefragt, wie ich so lange mit einem Mann wie Naveed unter einem Dach leben konnte.«
»Eine berechtigte Frage«, sagte Mutter.
»Es ist mein Ernst, Muneer. Er genießt nicht den besten Ruf bei ihnen …«
»Hmm …«
»Also habe ich gelogen. Ich habe gesagt, ich trage zu Hause den Schleier und bleibe für mich. Und er spricht mich nie an, wenn du nicht zugegen bist.«
Mutter zuckte merklich zusammen. Stirnrunzelnd sah sie Mina lange an. »Worauf lässt du dich da bloß ein?«
Im ersten Moment schien Mina nicht zu wissen, was sie darauf antworten sollte, dann sagte sie: »Er liebt Imran, Bhaj . Er ist ein bescheidener Mensch. Er hat Versprechungen gemacht. Mit allem anderen kann ich leben. Es ist nicht das Ende der Welt.«
Sunil störte es anscheinend nicht, dass Vater nicht da war. Er wollte nur nicht, dass Mina es gegenüber Ghaleb oder Najat erwähnte. Und so begegnete ich ihm zum ersten Mal.
Auch wenn ich deswegen ein schlechtes Gewissen hatte, aber in meinen Augen sah er aus wie eine Ratte. Er hatte ein schmales Gesicht, eine kleine runde Nase und breite Wangenknochen mit feinen schwarzen Haaren, die wie Schnurrhaare aussahen. Dazu seine Haltung: Sunil schien in seinem weiten, beigefarbenen Anzug geradewegs zu versinken, als er an diesem Nachmittag in unserem Wohnzimmer saß – auf eben jenem Armsessel, auf dem vier Monate zuvor Nathan niedergestreckt gelegen hatte, nachdem ihm Imran ein Matchbox-Auto ins Gesicht geschleudert und ihn am Auge verletzt hatte. Dazu hob sich Sunils beigefarbener Anzugstoff kaum vom Beige des Armsessels ab, so dass es aussah, als würde der spindeldürre Mann mit seiner Umgebung einfach verschmelzen – nur ein dunkelbrauner Kopf ragte aus dem sich auftürmenden beigen Stoffgebirge, nicht unähnlich einem Präriehund, der seinen Kopf aus dem Bau steckte.
»Hayat«, sagte er. Ich stand ihm gegenüber in der Wohnzimmertür und war von seinem Anblick ebenso verblüfft wie von Minas Aufmachung. Sie trug nämlich einen eng sitzenden Schleier wie die Frauen aus dem Iran, die wir immer in den Abendnachrichten sahen. Ich hatte sie noch nie in dieser Aufmachung gesehen. Wenn sie den Kopf bedeckte, dann mit einer indischen Dupatta, die im Grunde gar nicht so viel verbarg, sondern im Gegenteil ihre Weiblichkeit noch mehr betonte, sie hübscher aussehen ließ als ohne jede Kopfbedeckung. Der strenge, das Gesicht umrahmende marineblaue Hidschab aber hatte wenig Verlockendes an sich. Für mich sah sie aus wie eine Nonne.
»Das ist Sunil, mein Lieber.«
» Beeehta? «, gurrte Sunil. Ich starrte ihn regungslos an und musste an unser kurzes Gespräch am Telefon denken. Seine eintönige Sprechweise mit den lang gezogenen Silben erschien mir ebenso sinnlos wie damals, als ich sein Gesicht nicht vor mir hatte. Dazu zwinkerte er mir ständig zu, als hätte er etwas im Auge. »Wie geeeht es diiir?«
»Gut.«
»Miin hat mir von deinen Stuuudien erzählt? Es macht mich stooolz, einen angehenden Hafiz zu keeennen …«
»Danke, Onkel.«
»Wie weit biiist du schooon, Behta ?«
»Zehn Dschuz.«
»Zehn!«, rief Mina aus.
»Ein Driiittel?«, sagte Sunil zwinkernd. Beeindruckt sah er zu Mina.
»Wie hast du überhaupt die zehn geschafft?«, fragte Mina und schüttelte den Kopf.
»In der Schule. Ich lerne in der Pause auswendig.«
»In der Pause?« Mina sah zu Sunil, dann wieder zu mir. »Dein Fleiß ist lobenswert, Behta .« Wieder wandte sie sich an Sunil. »Du weißt noch, was ich dir über Naveed erzählt habe?«
Sunil nickte, dabei ruckte sein Kopf hin und her, währenddessen er unablässig zwinkerte. »Beeindruckend, beeiiindruckend. Und ganz allein? Unter solch schwiiierigen Umständen.« Sunil beugte sich vor und streckte mir die Hand entgegen. »Komm zu deinem Onkel …« Ich trat näher und blieb stehen. Imran saß zu seinen Füßen und hatte seine Spielsachen um sich herum verstreut. Sunil streckte sich noch mehr und reckte mir über Imrans Kopf die Hände entgegen. Ich wusste nicht, was er von mir wollte.
»Gib mir deine Häände«, sagte er.
Ich tat es.
Er ergriff sie und bohrte mir seine Fingernägel in die Handinnenfläche. Es war unheimlich.
»Du eriiinnerst mich an meinen Neeeffen«, sagte er und knetete noch immer meine Hände. »Erst füüünfzehn und
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