Himmelssucher - Roman
und Mina schlug zurück, indem sie Mutter die gehässigen Dinge an den Kopf warf, zu der nur die beste Freundin imstande ist.
Eines Tages fand ich Mutter am Küchentisch vor, wo sie zur glitzernden Schneedecke im Garten hinaussah. Sie rührte sich nicht. Sie erweckte noch nicht einmal den Anschein, als würde sie atmen. Ich fragte, was los sei.
»Deine Tante und ich haben uns gestritten«, sagte sie leise.
»Schon wieder?«
»Ich habe ihr gesagt, sie soll ihn verlassen. Sie braucht den Dreckskerl nicht mehr. Sie hat ihre Green Card. Aber sie will davon nichts hören. Sie hat jetzt sein Kind, sagte sie, und will nicht gehen …«
» Ammi . Das ist doch nichts Neues.«
Mutter schwieg kurz, bevor sie fortfuhr. »Sie hat noch etwas gesagt. Sie hat gesagt, es wäre mir die meiste Zeit in meinem Leben schlecht gegangen.« Erneut stockte sie. »Und damit hätte ich dafür gesorgt, dass es auch allen in meiner Umgebung schlecht geht … Stimmt das?« Sie sah aus, als würde sie jeden Moment anfangen zu weinen.
»Mom. Natürlich stimmt das nicht.«
»Vielleicht ist es so.«
»Du hast sie glücklich gemacht, oder? Du hast ihr geholfen, als sie Hilfe nötig hatte, richtig?«
Sie nickte, wenig überzeugt. »Aber was ist mit dir?«, fragte sie. »Habe ich dich glücklich gemacht? Du weißt, was Freud sagt …«
»Es interessiert mich nicht, was Freud sagt«, unterbrach ich sie.
»Mache ich dich glücklich?« Ihre Stimme brach.
Plötzlich hatte ich einen Kloß im Hals. »Natürlich machst du mich glücklich, Ammi . Natürlich.«
»Oh, Hayat«, sagte sie und streckte die Hände nach mir aus.
Am nächsten Tag rief Mina an und entschuldigte sich. Aber gleich darauf gerieten die beiden in einen weiteren Streit, und das ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, als Sunil überraschend früher als gewöhnlich von der Arbeit nach Hause kam. Als er bemerkte, dass Mina mit Mutter telefonierte, riss er vor Wut das Telefonkabel aus der Wand.
Und so verloren Mina und Mutter für drei Jahre jeglichen Kontakt …
Von den vielen Geschichten, die Mina mir erzählt hatte, blieben mir vor allem die über die Derwische im Gedächtnis: jene von dem Derwisch am Straßenrand, den Passanten mit Orangenschalen bewerfen und der in diesem Augenblick der Demütigung erkennt, dass das Selbst, das glaubt, es unterscheide sich von den Orangenschalen oder den Passanten oder Gott selbst, nur Fiktion sei; und jene Geschichte, in der behauptet wird, zu Staub zermalmt zu werden sei der Weg zu Gott.
Ob Mina wie ihre Derwische Gott gefunden hat, vermag ich nicht zu sagen, aber durch die Heirat mit Sunil hatte sie jedenfalls jemanden gefunden, der sie demütigte, misshandelte und schließlich zu Staub zermalmte.
Nach acht Jahren Ehe fanden ihr Stress und ihre Anspannung schließlich ein Ende, als bei ihr Gebärmutterkrebs im Endstadium diagnostiziert wurde, der bereits Metastasen in den Knochen gebildet hatte. Minas Krankheit veranlasste Sunil dazu, sein Tun zu bereuen. Er rief Mutter an, um persönlich die Nachricht zu übermitteln, und vertraute ihr an, dass er sich für die Krankheit seiner Frau verantwortlich fühle. Mutter stimmte ihm vorbehaltlos zu – sie sollte Sunil während Minas letzten Monaten eine Menge Kummer aufladen –, Mina selbst jedoch wollte davon nichts wissen. Sie wusste Sunils Sinneswandel sehr wohl zu schätzen – und hatte wahrscheinlich auch nichts dagegen, dass sich Mutters Zorn über ihm entlud –, doch für sie zeigte sich in ihrer Krankheit einzig und allein Allahs Wirken, sie war eine weitere »Station auf ihrem Weg«, wie sie es nannte.
In den letzten acht Monaten ihres Lebens sprachen Mina und ich mindestens ein Dutzend Mal am Telefon. Und ich sah sie zwei Monate vor ihrem Tod.
Mutter hatte sie bereits einmal besucht, und als sie mir von einem zweiten geplanten Besuch berichtete, sagte ich ihr, dass ich mitkommen würde. Es gab zu diesem Zeitpunkt kaum mehr Zweifel, dass Mina sterben würde, und ich wusste, ich musste sie sehen.
Mutter und ich flogen nach Kansas City, wo uns Sunil am Spätnachmittag vom Flughafen abholte. Es waren kaum acht Jahre vergangen, seit ich ihn zum letzten Mal gesehen hatte, aber mir schien er mindestens um zwanzig Jahre gealtert zu sein. Sein schmales Gesicht war von tiefen Falten zerfurcht, seine Haare waren schlohweiß, und ich hätte ihn kaum für ein und dieselbe Person gehalten, hätte er mir nicht die Fingernägel in die Handflächen gebohrt wie damals, als wir uns zum ersten Mal begegnet
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